Sonntag, 1. Mai 2011

Maikundgebung

Es geht mir schlecht. Ich lasse mich nicht hängen. Doch davon wird es nicht besser. In meinem Zustand betrinken sich Leute. Das kann ich mir finanziell nicht leisten. Das würde ich auch nicht ertragen, in meinem Zustand auch noch einen Kater zu haben, und damit von vornherein zu verhindern, dass es mir morgen schon wieder besser geht. - Der hier schon einmal erwähnte Adelsexperte sitzt um 14 Uhr vor der Feinbäckerei, trinkt ein großes Bier und hat seine neue Sonnenbrille mit großen tropfenförmigen Gläsern auf, von deren Kauf ich ihm abgeraten hätte. Als er mich bemerkt, wird sein Gesicht noch länger und er schaut an mir vorbei. Auch eine Art von Leserkommentar. Hat er also meine Bemerkungen über ihn im anderen Blog inzwischen auch gelesen. So schlimm? Ich könnte mein Fahrrad anhalten vor der Feinbäckerei, Hallo sagen und abwarten, was er dann macht, und wenn er dann auffallend verhalten reagiert, könnte ich ihn fragen, was er hat, als ob ich das nicht wüsste. Das wäre aasig. Und zu einfach, mich von mir abzulenken, indem ich auf andere losgehe. Wäre ich 40 Jahre jünger, würde ich heute Abend an den 1.Mai-Unruhen in Kreuzberg teilnehmen. Da sind die Anderen Profis; sie werden dafür bezahlt, wenn auch sehr schlecht. Und da sie von Berufs wegen schon einmal da sind, würden sie sich nur langweilen, wenn nach Einbruch der Dunkelheit nicht endlich der Straßenkampf ausbräche. Alles junge Männer, die sich auch gerne mal austoben. Und bitte einmal darauf achten: Es scheint Grenzen zu geben, die in stiller Übereinkunft der feindlichen Lager nicht überschritten werden. Hoffentlich ist das heute Abend auch so. Allen Beteiligten viel Glück und viel Spaß!

Was ich dann gemacht habe, ich bin nach Kreuzberg zu Peter gefahren. Unangemeldeter Besuch. Denn hätte ich mich angemeldet, hätte er abgewinkt. So rufe ich ihn an und sage: ich stehe 50 Meter von deinem Haus entfernt, kommst du runter? Mein Rest bürgerlicher Anstand besteht also darin, dass ich nicht erwarte, dass er mich in seine verwahrloste Wohnung bittet. Wir haben uns acht Monate lang nicht gesehen, immer nur telefoniert. Jetzt bin ich überrascht, was für eine Wampe er hat, und frage ihn, ob er zugenommen hat. – Ja, irgendwann habe ich sicher mal zugenommen, meint er und will damit sagen, in letzter Zeit nicht. Abgenommen hat er aber auch nicht. So sieht kein Krebskranker im fortgeschrittenen Zustand aus wie du, Peter. Dazu bist du einfach zu fett. Meine Art von Trost, eine andere habe ich heute nicht für ihn. Wir gehen Richtung Landwehrkanal. Nach dreihundert Metern bleibt er stehen. Röchelt. – Atemnot? – Er nickt. – Ich will nicht dabei sein, wenn du stirbst, sage ich. Und du musst auch nicht denken, dass ich darüber schreiben werde. Wenn du stirbst, werde ich im Blog weiterhin so tun, als würdest du noch leben. – Weil sonst dein Ruf im Eimer ist? – Genau. Weil ich immer behauptet habe, dass das alles nur psychosomatisch ist, was du hast. – Das Röcheln hört sich nun aber gar nicht psychosomatisch an. Und die Entzündung, die er hat unter der Zunge, die kommt von dem Eingriff am letzten Donnerstag im Virchow Klinikum. Unter Vollnarkose (mit Propofol) haben sie ihm da ein Loch in den Zungenboden gebohrt, um von da aus – invasiv diagnostisch – zu seinem Knubbel vorzudringen und Gewebe zu entnehmen. Da sie ihn schon mal unter Narkose hatten, haben sie auch gleich noch eine Magen- und eine Darmspiegelung gemacht. Befund kriegt er mitgeteilt am 11. Mai. Wieder Warten. Jetzt sehe ich zum ersten Mal den Knubbel an seiner unteren rechten Halsseite, und befühlen lässt er ihn mich auch mal. Harter taubeneigroß angeschwollener Lymphknoten. Psychosomatisch? - Mensch, Peter! Aber du siehst nicht krank aus. Nicht gerade rosig deine Gesichtsfarbe, aber fahl auch nicht. Wenn du nicht so übergewichtig wärst, könnte man sagen, du siehst kerngesund aus. – Auch das keine Trostworte. Ausdruck der Verwunderung. Und als er sagt, dass er sich immer hinfälliger fühlt, schon seit drei Monaten nicht mehr in der Bergmannstraße war, weil er den kurzen Weg dorthin nicht mehr schafft, sage ich lieber nichts. Wir sitzen in der Sonne auf einem Mäuerchen vor einem Gebüsch, dahinter der Kanal. Wir lachen viel. Von Angesicht zu Angesicht ist Peter noch witziger als am Telefon. Zwei junge Männer kommen vorbei. Einer der beiden lächelt mich an und schlägt sich mit der zur Faust geballten rechten Hand gegen die Brust (Herzgegend). - Was wollte er mir mit dieser Geste zeigen? Dass er seinen Hund liebt? - Als ich ihm hinterhergucke, sehe ich, dass der Hund ein Kampfhund ist, und dass sie ihn ohne Maulkorb und unangeleint rumlaufen lassen. Auf dem Rückweg kommen uns eine junge Mutter und ihre kleine Tochter entgegen, die feuermelderrote Haare hat. Ich schaue die junge Frau an - wegen der Eleganz, mit der sie eine einfache graue Decke um ihre Schultern gelegt hat, um sich vor dem kühlen Wind zu schützen. Die Frau erwidert lächelnd meinen Blick, neugierig, wem sie so gut gefällt. Ich sage, in Kreuzberg sind die Frauen anders als in Schöneberg. – Das habe ich schon immer gewusst, sagt Peter.