Dienstag, 31. Mai 2011

Talent

Tim eine Mail geschickt mit dem Betreff: Danke für nicht mit gemacht zu haben. Keine Bitterkeit. Überhaupt nicht. Gute Laune, weil ich so schlank rausgekommen bin aus dieser Geschichte, weitere Geschichte eines Neinsagers. Ziehe ich die an, die Neinsager? – Womit? Dass ich es versuche mit ihnen, obwohl ich weiß, dass es nichts wird. Denn in Wahrheit will ich doch nur erzählen davon, wie es nicht geklappt hat. Weil das ist die viel interessantere Geschichte, wie einer sich stur stellt, und was ich dann daraus mache. Interessanter als zum Beispiel mit dem Tim am Sandkasten zu sitzen, seinen Kindern beim Spielen zuzuschauen und dann ist das ein ganz normaler, auch ein bisschen langweiliger Mann mit zwei Kindern und einer Frau und einem Talent, aber über das will er nicht reden, weil das ist ihm zu intim. Das ist nicht mein Ernst. Natürlich wäre das die interessantere Geschichte gewesen, wie er über alles zu reden bereit ist, aber nicht über sein Talent, bloß nicht über sein Talent, weil er nämlich keines hat, denkt er, und deshalb macht er seit einem Jahr eine Ausbildung als Bibliothekar, um in der Nähe der Bücher zu bleiben, aber bloß keines mehr schreiben wollen müssen. So zum Beispiel. Oder noch mal ganz, ganz anders. Alles ist interessanter als das, was ich mir denken oder ausdenken kann über ihn.

Säufer-Varizen
Krampfadern in Speiseröhre oder Magen, entstanden durch schweren Alkoholmissbrauch über viele Jahre hinweg. Und eines Tages, wenn sie platzen, ertrinkt der Säufer in seinem eigenen Blut, wenn die Varizen sich in der Speiseröhre befinden, oder er erbricht es schwallartig und/oder scheidet es aus als Teerstuhl, wenn es aus dem Magen kommt; kotzt und scheißt sein Blut aus sich heraus bis zum finalen Schwächeanfall, der freilich immer noch der schönere Tod ist als das langsame Verrecken, das ihn erwartet, wenn der Verdacht auf Leberzirrhose sich bestätigt. Und das, obwohl er nie betrunken war, nie einen Kater hatte. Ach, Peter. Aber eines muss ich ihm lassen bei all seiner Lügerei, er ist dabei nicht schmierig. Und nur die Schmierigkeit ist das wirklich Verachtungswürdige beim Lügen. Das, noch gar nicht lange her, erlebt mit jemandem. Da konnte der noch so ein guter Freund gewesen sein, er wurde mir so eklig, dass es nicht mehr ging. Weil er es nicht einmal für nötig hielt, sich anzustrengen und überzeugend zu lügen, sein Lügen hingeschludert hat, hingeschmiert. Wenn die Lüge hingegen gut gemacht ist, das habe ich neulich gelernt, da mag der Lügner alles Mögliche sein, aber schmierig ist er nicht. Und bei Peter ist die Verlogenheit nicht schmierig, weil er in dem Moment, da er lügt, selbst daran glaubt. Was ihm um so leichter gelingt, als er sich ständig selbst belügt, und so überhaupt kein Verhältnis zur Wahrhaftigkeit hat. Aus Rücksichtnahme darauf habe ich von mir verlangt, ihm nicht böse zu sein wegen seiner Lügerei. Das ist lange gut gegangen, aber gestern  konnte ich nicht mehr: da habe ich ihm geschrieben, dass ich den Kontakt zu ihm abbrechen werde, wenn er die ihm bevorstehenden Operationen überleben wird (Verödung seiner Magen-Varizen, harmlos; Entfernung der geschwollenen Lymphknoten, riskant wegen Nähe zur Halsschlagader). Und für den Fall, dass er den riskanten Eingriff nicht überlebt, soll er es vorher wissen, dass ich den Kontakt zu ihm abbrechen werde, damit er nicht dumm stirbt, habe ich ihm geschrieben, und dass ich in Gedanken bei ihm sein werde. Dass ich immer sein guter Freund sein werde, hätte ich ihm auch noch schreiben können, aber das kann er sich denken, und bestimmt denkt er auch, dass ich mich wieder einkriegen werde, spätestens in zwei, drei Wochen, wenn er medizinisch alles überstanden hat. Doch ich kann nur hoffen, dass er sich da täuscht. Denn es ist der Fall von das eine Mal zu viel. Ich erzähle den Fall nicht. Nur für Peter, damit er es schriftlich hat: Das mit der Bestrahlung und der Chemo war es. Da hast du entweder vorher gelogen, als Du mir erzählt hast, sie hätten Dir gesagt, dass die Schwellung der Lymphknoten gutartig ist, oder Du lügst jetzt, um Dich wichtig zu machen, und dieses Schmierentheater, das spiel mal lieber Deinen Skypegespenstern vor, aber nicht mehr mir. So oder so, es war das eine Mal zu viel. Ich kann Dich nicht mehr ernst nehmen und auch nicht mehr über Dich lachen. Es geht nicht gegen Dich, es geht gegen das, was Du aus Dir machst mit Deinem Suff. Also nimm es nicht persönlich. Witz! Kein Witz!