Dienstag, 3. Mai 2011

Kaltgestellt

Der Helfer des Dachdeckers heißt Hans, er ist aus Leipzig, lebt in Neukölln, kommt mit der S-Bahn, ist deshalb pünktlich, und während er auf seinen Kollegen wartet, liest er in dem Buch, das er dabei hat: Ken KeseyDemon Box. Er hat es schon mal in deutscher Übersetzung gelesen. Jetzt liest er es noch mal in Englisch. Ich staune: Sie lesen Ken Kesey! Einer flog über das Kuckucksnest hat der geschrieben und er war eine der herausragenden Gestalten der amerikanischen Underground-Literatur. – Er hatte seine eigene Hippie-Kommune, sagt Hans. – Wie hießen die? Die Pranksters? – The Merry Pranksters. – Genau. Und Tom Wolfe hat ein berühmtes Buch über sie geschrieben. The Electric Kool-Aid Acid Test. – Habe ich auch gelesen, sagt Hans. - Ich bin zu müde, um ihn zu fragen, wie er auf diese 60er-Jahre-Bücher kommt und was er sonst noch liest. Ich nehme mein Laptop und gehe ins andere Zimmer. Dort schreibe ich an einem Text herum, mit den ich dem anderen Blog eine neue Richtung geben will, denn der andere Blog hat am Wochenende den Geist aufgegeben, was in diesem Fall keine veraltete Redensart ist, sondern wörtlich zu verstehen. Gegen 13 Uhr stelle ich den Text als Entwurf in den Blog, und während ich danach am Küchenfenster eine Zigarette rauche, überlege ich, dass ich ihn nicht veröffentlichen sollte und dass es sein könnte, dass der andere Blog nicht mehr zu retten ist. Der Kollege von Hans, der Dachdecker, hat inzwischen die Dämmung auf dem großen Balkon verlegt und die Dämmfolie verklebt. Das soll es für heute gewesen sein. Der Dachdecker und Hans machen eine Zigarettenpause. Ich frage den Dachdecker mit Blick auf die auf der Balkonbrüstung gestapelten Ziegel, warum er die entfernt hat. Er sagt, er hat die Ziegel zu seiner Sicherheit von der Dachschräge genommen, bevor er hinauf geklettert ist (um das Gerüst für die Plane abzubauen, die über den Balkon gespannt war). Und er fügt hinzu: Früher wäre er auch so hochgeklettert, doch das hat sich geändert, seit er Vater ist. – Ach! Ich frage mehr höflich als neugierig nach seinem Kind. Drei Monate alt, Nele Julee - und er kann an einer Hand abzählen, sagt er, wie oft er sie gesehen hat seit ihrer Geburt. – Oh! – Seine Verlobte, mit der er sieben Jahre zusammen war, hat sich von ihm im vierten Monat ihrer Schwangerschaft getrennt. Die Begründung habe ich nicht ganz verstanden, er auch nicht. Es sei ihr alles zu schnell gegangen, sie brauche Zeit für sich, um sich zu entwickeln oder so. – Das Kind war nicht seine Idee gewesen. Sie nahm die Pille, wurde trotzdem schwanger, konnte es sich auch nicht erklären. Er hat es so genommen, wie es war, obwohl er auch noch Zeit gebraucht hätte, weil er sich selbständig machen, ein eigenes Geschäft aufziehen will. Er ist 29, sie 24. Es gab Reibereien zwischen ihnen, weil sie sich hängen ließ in der Schwangerschaft, in Lethargie verfiel. Aber deswegen trennt man sich doch nicht. – Hat sie einen anderen Mann? – Er hat es vermutet. Seit Sonntag weiß er es. Nachdem er den ganzen Tag vergeblich darauf gewartet hatte, dass sie ihm wie verabredet das Kind bringt, und sie nicht gekommen war, ist er zu ihr hingegangen und da hat er sie mit seiner Tochter und ihrem neuen Mann gesehen. Im Auto des anderen Mannes, indem sie sich eingeschlossen haben, als er ankam. Sie hat dann ihren Vater angerufen und erst, als der eintraf, hat sie mit dem Kind das Auto verlassen und war bereit mit ihm zu reden. - Ich habe schon einige Geschichten von kaltgestellten Vätern gehört, doch das ist die härteste und die ungewöhnlichste: Trennung im vierten Monat wegen einem anderen Mann! – So ungewöhnlich ist das nicht, das kommt öfter vor, sagt Hans, der Ken-Kesey-Leser. - So oft kann das nicht vorkommen, sonst hätte ich vorher schon davon gehört, entgegne ich bissig und mache damit deutlich, wie ich heute drauf bin.