Mittwoch, 31. August 2011

Schikane

Damals gab es noch den kleinen Don Antonio, den Billig-Italiener in der Akazienstraße. Und Polizisten trugen noch die grünen Uniformen mit einem Braunanteil (Hemd und Hosen), der ausgesehen hat – Karl Lagerfeld würde sagen: wie Durchfall von einem großen Hund. Da ich nichts mit der Polizei zu tun hatte und die Polizei nichts mit mir, hatte ich noch nie eine Polizistin in der Realität gesehen. In dieser scheußlichen Uniform. Es kam öfter vor, dass am Abend Polizisten zu Don Antonio kamen, um Pizza zum Mitnehmen zu kaufen, die sie zuvor telefonisch bestellt hatten. Meist zwei Pizzen. Ein Polizist hat sie abgeholt, während sein Kollege draußen, in der zweiten Reihe parkend, im Streifenwagen wartete. Eines Abends kamen zwei Polizisten herein zum Pizza-Abholen, ein junger Mann und eine junge Frau. Da sie vorher nicht angerufen hatten, mussten sie ein paar Minuten warten. Die junge Frau keine Schönheit, aber doch so hübsch, dass es der kackbraun-grünen Uniform nicht gelungen ist, sie zu entstellen. Die beiden in ihrem Umgang so, dass sie auch Studenten hätten sein können, die sich zusammen auf eine Prüfung vorbereiten und gerade eine Pause machen. Kollegen. Ein Team. Inzwischen weiß ich, nur ein Team für eine Nacht. Bei der nächsten Schicht würden sie mit einem anderen Kollegen, einer anderen Kollegin im Streifenwagen unterwegs sein. Das ist die Regelung, um zu verhindern, dass aus Kollegen Komplizen werden. Nur blöd, wenn es einmal brenzlig wird, denn dann ist nichts mit blind sich auf den anderen verlassen können. Andererseits wird es so nie langweilig, gibt es immer neuen Gesprächsstoff für die Phasen, in denen die Polizeiarbeit Warten darauf ist, dass etwas passiert oder bis beim Billig-Italiener die Pizza fertig ist. Die junge Polizistin und der junge Polizist hatten sich viel zu erzählen und während ich ihnen dabei zuschaute, habe ich gedacht: So sehen also jetzt die Bullen aus. Mit solchen Bullen würde ich gerne mal zu tun haben. Alleine schon, um zu erleben, wie die sind - ob das überhaupt noch Bullen sind oder eine neue, ganz andere Art von Polizisten. Das war der Moment, in dem ich angefangen habe, mich für Polizisten zu interessieren. Und das hätte ich gestern schon erzählt, wenn ich nicht unterbrochen worden wäre vom Anruf Dr. Bürgers. Bei mir hat es dann mehr als zehn Jahre gedauert, bis ich solche Polizisten kennengelernt habe. Wäre Dr. Bürger damals auch im Don Antonio gesessen, hätte er noch am gleichen Abend ihre Bekanntschaft gemacht. Er wäre kurz vor die Tür getreten, um festzustellen, ob der Streifenwagen verkehrsbehindernd abgestellt ist (wie auch sonst in der ständig zugeparkten Akazienstraße), und dann wäre er zu den beiden hingegangen und hätte sie nach ihren Dienstnummern gefragt. Warum, hätten die beiden wahrscheinlich wissen wollen. Darauf hätte er sie belehrt, dass er das nicht zu begründen braucht. Das hat er schriftlich von der Zentralen Beschwerdestelle der Berliner Polizei, dass ein Polizist auf Verlangen seine Dienstnummer nennen muss. Und damit wäre er schon mit der jungen Frau und dem jungen Mann im Gespräch gewesen und hätte sie kennengelernt. Je nachdem hätte das Gespräch zu einer Dienstaufsichtsbeschwerde geführt oder Dr. Bürger hätte ein Einsehen gehabt, vielleicht weil ein lautes Knurren aus dem Magen der Polizistin oder des Polizisten ihn daran erinnert hätte, dass die beiden nicht nur Polizisten, sondern auch Menschen sind, oder sie hätten ihm geduldig erklärt, dass ein nicht geringer Teil der Polizeiarbeit im Sich-Vorbereiten und Warten darauf besteht, dass etwas passiert – dass Ernährung zur Vorbereitung zählt und dass es beim Warten darauf, dass etwas passiert, gleichgültig ist, wo sie warten; dass sie das also ebenso gut bei Don Antonio tun können, während sie sich eine Pizza holen. Hätte er das nicht eingesehen, hätte mich spätestens da die Wut gepackt und ich hätte dem bürgerlichen Herrn wegen seines schikanösen Verhaltens gegenüber den beiden jungen Menschen eine so hässliche Szene gemacht, dass schnell ein Fall eingetreten wäre, in dem die beiden Polizisten hätten einschreiten müssen, und schon hätte sich gezeigt, dass sie genau am richtigen Ort darauf gewartet hatten, dass etwas passiert, dass also von einem Dienstvergehen wegen Pizzaholens im Dienst und verkehrsbehindernden Parkens keine Rede mehr sein konnte. Kann aber auch sein, dass ich meine Wut für mich behalten und nur ein paar Notizen auf eine Serviette gekritzelt hätte. Denn ich war damals noch Drehbuchautor und habe das, was um mich herum geschah, ausschließlich betrachtet im Hinblick auf seine  Verwertbarkeit in TV-gerechten Geschichten. Sogar mit großer Wahrscheinlichkeit hätte ich mir nur ein paar Notizen gemacht. Und dass ich mir es jetzt anders ausgemalt habe, liegt nur daran, dass ich mich abreagieren wollte mit dieser Phantasie, weil es mich immer noch wurmt, dass ich mich gestern der Schikane Dr. Bürgers nicht energischer widersetzt habe. Etwas anderes war es nämlich nicht als eine Schikane, dass er die Namen des Cafés und des Schreibwarenladens gestrichen haben wollte. Seine Forderung begründet, korrekt, legitim, die Forderung selbst aber unnötig, sinnlos. Und weil ich mich nicht länger herumschlagen wollte mit dieser unnötigen, sinnlosen Forderung, habe ich nachgegeben und ärgere mich jetzt noch darüber.

Als ich Dr. Bürger letzte Woche die Links zu den drei Postings über ihn gemailt habe, da habe ich ihm dazu geschrieben: Es war anstrengend mit Ihrem Material zu arbeiten. Aber ich hatte dabei stets das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Das habe ich nicht immer. – Damit wollte ich ihm keineswegs schmeicheln. So war es. Aber wie passt das jetzt zusammen: anstrengend, sinnvoll; Schikane, sinnlos? – In seinem Charakter passt es zusammen. So ist er. Alles zusammen. Und dabei nicht einmal unsympathisch. Solange man nicht von ihm schikaniert wird.   

Dienstag, 30. August 2011

Bullen

Das bist doch du, der Professor Dr. Bürger. – Wie? – Der Mann, über den du letzte Woche geschrieben hast. Den hast du doch erfunden, um deinen Hass auf die Bullen loszuwerden. (*) – Nein, der ist echt. Erfunden ist nur der Name Bürger, den Mann gibt es: Dr., Professor und sein Privatkrieg gegen die Polizei, alles authentisch. Und ich habe auch keinen Hass gegen die Polizei. Nie gehabt. Nicht mal, als die Polizei zu die Bullen wurde und ein Feindbild war in den 60er Jahren. Und danach war sie mir erst mal egal. Nie was mit der Polizei zu tun gehabt. Und die Polizei nichts mit mir. Es ist auch interessanter nichts gegen die Polizei zu haben. Dann kann ich mich nämlich für Polizisten interessieren. Dann kann ich mich fragen, was sind das für Menschen, was machen die für eine Arbeit? Wie geht es ihnen dabei? Dann höre ich Erzählungen wie die: Dann sind wir zu dem Einsatz gefahren, haben uns in eine Seitenstraße gestellt, haben unsere Anweisungen bekommen, haben uns vorbereitet und dann haben wir gewartet, sieben Stunden haben wir gewartet. Und als es dann losging, hat es eine Stunde gedauert, und dann war der Einsatz vorbei und wir sind zurückgefahren. Der 1. Mai eines Polizisten. Mein zweiter Vorname ist Warten hat mein Schutzmann einmal gesagt. Ein wesentlicher Teil von Polizeiarbeit ist, sich vorbereiten und warten darauf, dass etwas passiert … . 

Streichungen
Abbruch Textentwurf um 17.10 Uhr nach Anruf von Dr. Bürger. Heute erst hat er auf seinem Anrufbeantworter meine Nachricht abgehört mit meiner Bitte um Rückruf wegen seiner Änderungswünsche. Den Namen seines Stammcafés will er gestrichen haben, der Name des Schreibwarengeschäfts soll nicht genannt werden in den Texten über ihn. Einen Interviewpartner lernt man erst richtig kennen, wenn man über ihn geschrieben hat. Dr. Bürger erweist sich im Nachhinein als der Mann, als den ich ihn von Anfang an kennengelernt habe. Trotzdem: Ich hatte gedacht, da kämen noch ganz andere Einwände von ihm. Aber alles, was kam, waren Richtigstellungen, die im Grunde nur Präzisierungen sind, und das mit dem Weglassen der beiden Namen. Denn das hatte ich ihm zugesichert vorher: keine Klarnamen, vollkommene Anonymisierung. Und der Name des Cafés und der Name des Schreibwarenladens, das sind Klarnamen. Im Laden ist er Stammkunde, im Café Stammgast, das ist seine Privatsphäre, argumentiert er. Aber, entgegne ich, das sind öffentliche Orte. In dem Laden bin ich auch Stammkunde. Und überhaupt, das schadet Ihnen doch nicht, dass die Namen genannt werden. Sie sagen doch immer wieder: Die Polizei weiß alles über mich. Dann kennen die auch Ihr Stammcafé. Und dass Sie in dem Schreibwarenladen einkaufen, das ist sogar aktenkundig, weil der Laden Schauplatz eines Vorfalls war, der zu einer Ihrer Dienstaufsichtsbeschwerden geführt hat. Und für die nicht-polizeilichen Leser werden Sie dadurch nicht identifizierbar, dass die Namen des Ladens und des Cafés genannt werden. Warum also schenken Sie mir die Namen nicht, da ihre Nennung Ihnen nicht schadet? – Weil wir ausgemacht hatten, keine Klarnamen.  – Das sind keine Namen, die schützenswert sind im Hinblick auf Ihre Anonymität. Sie haben ja auch nichts dagegen, dass ich die Wurstbude am Bayerischen Platz genannt habe. – Da gibt es zwei. – Stimmt. Was machen wir jetzt? Ich will meine Texte nicht mit Streichungen verhunzen. Helfen Sie mir dabei, Sie zu verstehen. Warum ist Ihnen das so wichtig, dass ich die Namen weglasse? – Weil wir ausgemacht haben, keine Klarnamen. – Uff. Es geht ihm ums Prinzip. Deshalb sage ich: Prinzipienreiterei. Berührt ihn nicht. Ich könnte auch noch sagen: Gesslers Hut. Da würde er wahrscheinlich sagen: Schiller schon lange tot. Wilhelm Tell noch viel länger tot. Nein, würde er nicht sagen. So ist er nicht. Er würde nur wiederholen: Keine Namen. – Ich kann jetzt nicht länger telefonieren. Ich will weiterschreiben, sage ich. Lassen Sie uns morgen noch mal reden. Gehen wir beide in uns und überlegen, ob wir Spielraum für Entgegenkommen haben. – Ich erwarte natürlich, dass er sich bewegen wird morgen. Ich will mich nicht bewegen. Ich will unbedingt an den Namen festhalten. Und er will sie unbedingt weghaben. Er erwartet von mir, dass ich mich morgen bewege. Er ist Dr. Bürger. Er ist berühmt dafür, dass er nicht locker lässt. Sein Beharren auf den Streichungen, das ist die Fortsetzung seiner Geschichte im Blog. Und sie sind ihm so wichtig, dass er zu Anfang des Telefongesprächs sogar erklärt hat: Alles andere können Sie so lassen wie es ist, aber die beiden Namen müssen Sie rausnehmen. – Ich muss gar nichts. Die von ihm verlangten Präzisierungen hätte ich, so wie er sie formuliert hat, separat gepostet. Ich wollte ihm sogar anbieten, sie zu einem Gastbeitrag auszuarbeiten. Jetzt will er ganz darauf verzichten, wenn ich die Namen des Cafés und des Schreibwarenladens streiche. – Was mache ich? Rhetorische Frage, denn ich weiß es schon seit ca. 30 Zeilen. Ich werde mich bewegen. Heute noch, damit ich es hinter mir habe. Ich werde die Namen xxxxxxen und zur Erklärung in Fußnoten auf diesen Text verweisen. Und jetzt habe ich schlechte Laune, weil ich keine Lust habe zu kämpfen.

(*) Das war Uliane, die geglaubt hat, dass ich mir das alles ausgedacht habe. Bei ihr gewesen heute, um Bilder auszuwählen für die Präsentation ihrer Arbeit. Zuvor hatte sie mir eine bessere Reproduktion des Porträts geschickt, das ihr Schüler Torsten Holtz von ihr gemalt hat. Bitte gucken: Lehrerin. Viel besser jetzt. Für das Bild hat sie ihm Modell gestanden. Das macht sie öfter, für ihre SchülerInnen Modell stehen, hat sie erzählt. – Andere Arbeiten von Torsten Holtz hier.  

Montag, 29. August 2011

Wolke

Neulich meinte jemand (auf Englisch), was vor mir liegt, das sei vergleichbar mit der Aufgabe, to hold 100 tons of water in thin air with no visible means of support – 100 Tonnen Wasser in der Luft zu halten, stemmen könnte man auch sagen, aber das ohne sichtbare Hilfsmittel wie zum Beispiel einer Batterie von Hochdruckpumpen, also einer monumentalen Ausrüstung, die ich auch gar nicht zur Verfügung hätte. Doch darauf kommt es nicht an. Es ist nur ein Gedankenexperiment und ein Bild für die tatsächliche, die zum Schreien schwere Aufgabe, die vor mir liegt. Seltsames Bild. Was willst du mir damit zeigen? Willst du mich etwa entmutigen? – Doch dann kam es: Wie könnte das gehen, die 100 Tonnen Wasser in der Luft zu halten? – Build a cloud. Forme eine Wolke. – Na klar! Schlau! So geht es. Nur so. Aber was heißt das nun, übertragen auf meine Aufgabe? Etwas tun, das so naheliegend ist, dass ich es nicht gleich sehe? Und es ist kein ausgeklügeltes Verfahren, es ist etwas so Einfaches und Natürliches wie eine Wolke? Darüber habe ich dann mehrere Tage lang ergebnislos gebrütet, fasziniert von dem Bild mit der Wolke, bis ich es wieder vergessen habe.
Am Wochenende habe ich begonnen, für den Blog ein Inhaltsverzeichnis anzulegen. Mit Hilfe von Labels, mit denen Posts mit Stichwörtern etikettiert und so zu Themengruppen zusammengefasst werden können. Schon bemerkt, am rechten Rand, das Verzeichnis über dem Blog-Archiv? - Mit diesem Posting umfasst das Archiv 482 Texte. Von keinem Leser ist zu erwarten, dass er sich da an der Chronologie entlang durchwühlt. Jetzt auch nicht mehr nötig. Das Inhaltsverzeichnis macht das Archiv lesbar nach Stichworten. Seinen Interessen folgend kann man sich nun zielgerichtet durch das Blog-Archiv bewegen. Zum Beispiel Tot anklicken und alle 7 Texte lesen, die ich über oder ausgehend von Todesfällen geschrieben habe. Oder sich alle Postings anschauen zum Thema Kunst oder über die Polizei. Oder sehen, wer von mir zu Freunde gezählt wird und wer zu Fremde. Da bitte beachten, dass diese beiden Gruppen noch lange nicht vollständig sind. Auch die Stichworte sind noch nicht komplett. Ich habe gerade erst angefangen mit dem Inventarisieren. Und ich weiß auch noch gar nicht, ob ich alle Postings zuordnen und ob ich jedes Thema aufführen werde. Wird es zum Beispiel das Stichwort Contessa oder Tess oder Frau von gegenüber oder schöne Unbekannte geben? Das wäre dann sicher die umfangreichste Gruppe. Will ich mir das antun, die zusammenzustellen? Heute Früh habe ich mal in einen Text reingelesen, in dem ich sie liebevoll-ironisch meinen Sonnenstrahl genannt habe. Das wahrscheinlich bitterste Lächeln meines Lebens war das, das sich mir in dem Moment ins Gesicht gegraben hat. Tendenz: Ich lasse diese Texte im Archiv ruhen. Oder ich stelle nur eine Auswahl zusammen. Ein Best of. Best of Tess?

Roman
Der Host Blogger bietet zwei Anzeigeformen an für das Verzeichnis nach Stichworten: Liste und Cloud. Was am rechten Rand zu sehen ist, das ist die Wolken-Anzeige. Wie bei einer Haufen- oder Quellwolke gibt es unterschiedlich große Haufen. Die Menge an Texten zu einem Thema ist so auf einen Blick erkennbar und als Ensemble sieht es einfach gut aus. Scheinbar chaotisch und trotzdem als Textgestalt ein harmonisches Ganzes.

Wolke. Die Wolke, die ich formen soll, um meine 100 Tonnen Wasser in die Luft zu befördern. Die ist mir sofort wieder eingefallen, als ich das gesehen habe: Cloud. – Seit ich diesen Blog schreibe, verfolge ich die Idee, dass es innerhalb des Blogs einen Roman geben soll – nicht erfunden, non-fiction novel, Tatsachenroman. Roman meines Lebens. Es hat im Blog immer wieder Postings gegeben, die daraufhin geschrieben waren. Es wird auch bestimmt demnächst das Stichwort Roman im Index auftauchen und in der Abfolge der Texte wird erkennbar sein, woran der Romanplan bisher gescheitert ist. Es gibt keine Continuity, wie es beim Filmemachen heißt. Der Zusammenhang der Texte ist mein Leben, habe ich mir immer gedacht. Aber das hat nicht gereicht. Es kam kein Fluss zustande. Es gab immer nur neue Ansätze und die Behauptung, das ist jetzt der Roman oder es ist wie ein Roman. Am ehesten Roman war noch meine Geschichte der unerfüllten Liebe zur schönen Unbekannten. Da wussten die Leser auch jederzeit, woran sie waren, wenn sie einen Text dazu lasen: Er kriegt sie nicht, er wird sie nie kriegen. Wann kapiert er es endlich, wird er es je kapieren? – Die Frage ist bis heute nicht beantwortet. Viele Leser fanden das spannend, viele andere nicht. Der Liebesroman hat sich von selbst geschrieben. Continuity war die Stagnation, die ständige Unerfülltheit bei all den wechselnden Erregungen und Aufregungen. Es gab ein Kompositionsprinzip. Und  komponiert habe nicht ich, das hat die schöne Unbekannte gemacht. Mal weniger, mal mehr entrückt. Inzwischen ganz. Und ich will gar nicht wissen wohin entrückt und was sie dort macht und fühlt und sich denkt dabei. Jetzt muss ich den Roman selbst komponieren, wenn es einen geben soll. Roman nicht mehr meiner unerfüllten Liebe, die bleibt unerfüllt, da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Die Unerfülltheit ist das Hintergrundrauschen, aber der Roman soll mehr sein, Roman meines ganzen Lebens. 100 Tonnen Wasser formen zu einer Wolke. Das ist die Aufgabe. Und jetzt zur Erleichterung aller Leser, die bis hier durchgehalten haben: das Cloud-Tool zum Erstellen eines Blog-Index, zum Arrangieren von Lektüre-Passagen, das könnte ich verwenden, um einen Roman zu bauen aus den täglichen Postings dieses Blogs. Wenn es gelingt, wird es unter dem Cloud-Verzeichnis, das da am rechten Rand steht, unter dem Inhaltsverzeichnis für die bisherigen Posts, eine zweite Wolke geben und die zweite Wolke wird die äußere Form des Romans sein. Das alles ist sehr abstrakt und mir selbst noch nicht ganz klar. Aber das ist mir gerade völlig egal in meiner Euphorie über diese Entdeckung. Gemacht, als ich diesen Text entworfen habe, um auf das Inhaltsverzeichnis hinzuweisen: die Wolke.  

Sonntag, 28. August 2011

Gelacht

Das kann noch was werden! Da habe ich die Kamera noch gar nicht aus der Jackentasche geholt, da höre ich schon das erste entschiedene Nein. Das immer noch hübsche, interessante Gesicht soll nicht fotografiert werden. Weil es nicht mehr so jung ist, wie es vor 40, 50 Jahren einmal war? Vielleicht ein andermal, aber dann bitte nur von weitem! Heute jedenfalls nicht. Dabei wollte ich doch nur rumknipsen. Einfach drauflos; damit anfangen, meine ersten 1000 Fotos zu machen, um die Handhabung des kleinen Apparats zu automatisieren. Auf keinen Fall die Bilder hier zeigen. Aber so weit bin ich gar nicht gekommen, das zu erklären, da hatte sie schon Nein gesagt, die Brigitte Stamm, und als ich dann die Kamera in den Galerieraum  reingehalten habe, da hat sie sich weggeduckt und in die Ecke verzogen, weil sie mir nicht getraut hat. Gelacht darüber habe ich erst später, als Gülcan die gleichen Zicken gemacht hat, nur noch aufgescheuchter war sie hinter ihrer Ladentheke und hat sich die Hand vors Gesicht gehalten, bis sie gesehen hat am Einfahren des Objektivs, dass ich die Kamera abgeschaltet hatte. Mädchen! – Die Jungs haben so getan als wäre nichts und sich von ihrer besten Seite zu zeigen versucht (Oguzhan) oder es einfach nur über sich ergehen lassen (Tobias, Videoworld). Aber dafür sind sie auch nur die Jungs und zeigen kann ich die Bilder hier trotzdem nicht, weil ich nicht gefragt habe, ob sie damit einverstanden sind.

Schönschrift
Abends zu Uliane habe ich die Kamera erst gar nicht mitgenommen, weil ich mich konzentrieren wollte auf das Ereignis und die Bilder an den Wänden. Das Ereignis war dann, als alle Gäste in einer Runde saßen, Uliane einleitende Worte gesagt hat und damit ein Gespräch eröffnen wollte. Das schien erst nicht zu klappen. Bis es dann zu einer Kontroverse über das Reden über die Bilder kam. Im Mittelpunkt zwei Arbeiten von Ulianes Freundin Gudrun; ich weiß nicht, wie sie mit Nachnamen heißt, obwohl ich sie auch schon seit über zehn Jahren kenne, und digitale Reproduktionen der Bilder habe ich auch nicht. Zwei Tafeln bestehend jeweils aus vier Schals, wie Gudrun die langgezogenen Rechtecke nennt. Die Schals verschieden strukturiert. Von Mustern zu sprechen wäre nicht zutreffend. Anmutung von Schrift. Abstrakte Schrift. Reine Zeichenhaftigkeit. Losgelöst vom Bezeichnen. Gegenstandslose Kalligraphie. So noch nie gesehen wie auf diesen beiden Bildern. Das ihre Besonderheit. Das ihre Schönheit. Nix mit Wattenmeer und Meeresboden bei Ebbe, nur weil Gudrun von der Nordseeküste kommt und gesagt hat, wie wichtig für sie die Naturbetrachtung ist. Und da nach der Ebbe die Flut kommt und dann. wo zuvor Grau und Braun war, nun auf einmal Blau ist vom Wasser, hat der mit der Meeresboden-Assoziation dann allen Ernstes zu Gudrun gesagt, ihm fehlt das Blau in den Bildern. Dann aber! Kontroverse. Dafür Dank an den Mann mit der Meeresboden-Assoziation. Ohne die hätten wir ihm nicht widersprechen können. Gutes Gespräch. Guter Abend. Dank an auch an Uliane und an Gudrun. Von der hier bestimmt mal mehr. Dann mit Abbildungen und Nachnamen.

Hirsch
Das nächste Nein fange ich mir ein vom schönen Mann auf der Carl-Zuckmayer-Brücke. Heute steht er alleine an seinem Stammplatz an der Brüstung mit dem Rücken zum Goldenen Hirsch. Und da ausnahmsweise mal seine Kumpanen nicht da sind, bräuchte er sich eigentlich nicht so zu zieren vor mir. Aber er hat ein Prinzip: außer für Passfotos lässt er sich nicht fotografieren. Den beiden japanischen Touristinnen neulich hat er das auch schon gesagt. Und da kann ich ihm noch so oft schöner Mann sagen und dass er eine Sehenswürdigkeit ist und: ich habe hässliche Falten. deine Falten hingegen sind dezent und symmetrisch - nichts geht: wenn ich fotografieren will, kann ich das mit dem Hirsch machen, jedoch mit ihm nicht, heute nicht und auch nicht beim nächsten Mal. Deswegen viel gelacht mit dem schönen Mann auf der Carl-Zuckmayer-Brücke. Wenigstens das. Alleine hätte ich es heute nicht geschafft zu lachen.

Samstag, 27. August 2011

Lehrerin


Torsten Holtz: Uliane
Öl auf Leinwand  195 X 95 cm  2006

Mehr empfunden als gesehen? Der Schüler porträtiert seine strenge Lehrerin. - 95 Prozent von Ulianes Schülern schaffen die Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie. Was macht sie als Lehrerin so erfolgreich?  Das Bild von Torsten Holtz zeigt es uns: Mit Nettigkeit erreicht man gar nichts. In der Kunst nicht, in der Lehre nicht. Und im Leben? Ist Uliane von einer solchen Freundlichkeit, dass es kaum vorstellbar scheint, dass sie so sein kann wie auf dem Gemälde. Doch ihr Schüler muss es wissen. Gesehen oder empfunden, so ist sie. Auch.


"Indisches Fest"   Künstlerehepaar Borchert   1908 

Aus dem Familienalbum: Uliane Borcherts Großeltern väterlicherseits waren beide Maler und haben beide auch gelehrt. Bernhard Christian Carl Borchert (geb. 1862 in Riga) war Kunstprofessor an der Kunsthochschule in Riga, später an der Kunstakademie in Moskau. Eva-Margarete Borchert (geb. 1878 in Riga) leitete mehrere Jahre die Porträtklasse an der Rigaer Kunsthochschule. Maler und Kunstprofessor (in Berlin) war auch der zweitgeborene Sohn des Paares: Bernhard Wilhelm Borchert (geb. 1910 in Riga), der Vater Ulianes. Ihre Großmutter hat sie verehrt und geliebt. Ihren Großvater hat sie nicht mehr kennengelernt; er ist 1945 in den Kriegswirren verschollen. Da hatte sich die Großmutter schon längst von ihm getrennt. 15 Jahre älter war er als sie und ihr irgendwann dann zu alt. Auch nicht nett. Aber – siehe oben – mit Nettigkeit erreicht man gar nichts: in der Kunst nicht, in der Lehre nicht – und im Leben ... ?

Website: Borchert. Vier Generationen der deutsch-baltischen Künstlerfamilie.
Bild: © Torsten Holtz
Foto: © Uliane Borchert

Freitag, 26. August 2011

Doppelt

Wie charmant! An der Tür ein Zettel: Musste weg. Bin um 14.30 Uhr wieder zurück. – Es ist 14.10 Uhr. Was mache ich jetzt? Auf dem runden Tisch neben dem Eingang der Galerie: eine Süddeutsche Zeitung und ein kleiner Teller mit vier Keksen. Während ich auf sie warte, soll ich Zeitung lesen und Kekse essen. Ich lächle, finde es charmant und beschließe, mir die Zeit zu vertreiben, indem ich Einkäufe mache. Zuerst bei Öz-Gida: Pfirsiche kaufen und die Zwillinge angucken. Entdeckung vom Anfang der Woche: Die Kassiererin mit den glatten langen schwarzen Haaren gibt es doppelt. Hat es immer schon doppelt gegeben. Ich habe es nur erst am Montag bemerkt, als ich an der hinteren Kasse zahlte und dann vorne rausging, an der Kasse dort vorbei, und da saß sie noch mal, die junge Frau, bei der ich soeben gezahlt hatte. Wie denn das? - Ach so! Zwillinge! - Eineiig? - Ja. - Und wie alt seid ihr? - 26. - Sie arbeiten beide schon seit längerem bei Öz-Gida und machen es den Leute auch wirklich nicht leicht, sie zu unterscheiden. Im gleichen Stil - mit Wangen-Rouge - geschminkt und gestern trugen sie beide die Haare hochgesteckt; das vorige Mal hatten beide sie offen getragen. Bei der einen habe ich ein kleines Piercing über dem rechten Nasenflügel bemerkt. Beim nächsten Mal darauf achten, ob die andere auch eines hat. Bin fasziniert. Noch mehr von der verschworenen Gemeinschaft, die sie bilden als von ihrer verblüffenden Ähnlichkeit. Ich war mal mit einer Frau zusammen, die mit ihrer Zwillingsschwester in einer Tonlage sprechen konnte, die für niemanden anderen verständlich war. Alleine schon, dass die im gleichen Supermarkt arbeiten, die Zwillinge bei Öz-Gida! Möchte sie unbedingt mal zusammen erleben. Wie stelle ich das an? – Indem ich sie frage, ob ich sie fotografieren darf für den Blog, und sie dazu bringe, dass sie beide ja sagen.

Jetzt ist sie da, sitzt an dem Tisch vor dem Eingang ihrer Galerie, isst eine Quarkspeise und dazu die Kekse, die für mich bereitstanden. Sie musste ihrer Tochter was in die Schule bringen, das die vergessen hatte. Die Ferien auf Ibiza mit den Kindern und der Familie ihrer Freundin waren ein Erfolg. Auf der Rückreise kam in Barcelona ihr Mann dazu; der zweite Teil ihres Doppelnamens. Im Dalí-Museum in Figueres waren sie. Wie heißt noch mal die Schauspielerin, nach deren Mund er die berühmte Couch geformt hat? Mae, Mae? – Mae West? – Mae West. – Wusste ich gar nicht, dass er mit der zu tun hatte. Mae West hatte eine Art von Sexiness, die mich nicht erreicht hat. Großartig allerdings ihre weltberühmte Zeile: Ist das eine Knarre, die Sie da in ihrer Hosentasche haben, oder freuen Sie sich nur, mich zu sehen? – Hört Liljana zum ersten Mal. Lacht überrascht. – Nach Figueres sind sie durch die Provence gefahren und dann bald nach Hause, weil das Wetter schlecht wurde. – Reisen, nur um zu reisen ist nicht mein Ding, sage ich mal wieder, damit sie das auch weiß. Dazu sage ich dann jeweils noch, dass ich mich in der Rolle des Touristen nicht wohlfühle, weil ich sie als entwürdigend empfinde. Jetzt ist Liljana verblüfft. Das sagt ihr Mann auch immer, mit den gleichen Worten. – Wie alt ist dein Mann? – Gerade 60 geworden. – Ich bin gerade 59 geworden. – Ach. – Da gehören wir zur selben Kohorte, dein Mann und ich. Gemeinsamer Erfahrungshorizont. Liljanas Mann ist Professor an der Uni in Leipzig. Heißt, wenn eines ihrer beiden Kinder etwas zu Hause vergessen hat, bringt immer die Mutter es dem Kind in die Schule. Die nächste Ausstellung in Liljanas Galerie subjectobject wird erst im Oktober sein. Aber dann gleich ein Höhepunkt: Gerit Koglin. Sie redet über ihn ähnlich begeistert wie Uliane Borchert, deren Lieblingsschüler er ist. Gerit ist besser als Neo Rauch, sagt Liljana. Er hat auch dieses Narrative wie Neo Rauch, aber bei Gerit ist es mehr auf den Punkt. – Bist du auch bei der Galerieausstellung von Uliane am Samstag? – Nein. – Sie zeigt Bilder von sich und einer Freundin. – Petra? – Gudrun. – Ach ja. – Ich wusste gar nicht, dass die auch malt. Aber was Uliane mir von ihr gezeigt hat, ist erstaunlich. – Mit Amateuren gibt Uliane sich nicht ab, sagt Liljana und lacht. Respektvoll.

Morgen zeige ich das Porträt, das ein Schüler Ulianes von ihr gemalt hat und dazu wird es nicht viel Text geben. Denn am Wochenende will ich endlich mal mit dem Fotografieren beginnen. Und Liljana wird irgendwann mal von mir porträtiert. Nicht fotografiert, beschrieben - um herauszufinden, was das ist, das den Dialog mit ihr so leicht macht.

Donnerstag, 25. August 2011

Knacks

Gestern unübersichtlich. Heute kompliziert. Könnte es werden. Beschwerdefall, den ich geschildert habe im Posting Dr. Bürger. Der Mann, den ich so nenne wegen Anonymisierung, sitzt neben mir und er hat sich den Text ausgedruckt, in dem ich über ihn geschrieben habe. Er hat mir erklärt, worum es ihm geht: Er will nicht verletzt werden von Fahrradfahrern, die widerrechtlich und mitunter ohne Rücksicht auf Fußgänger zu nehmen auf Gehwegen fahren. Er erwartet von der Polizei, dass sie dagegen einschreitet. Regeln, die nicht eingehalten werden, sind wertlos. Diesen Satz hat er einmal auf der Website der Berliner Polizei gelesen. Guter Satz. Aber was ist mit den Regeln für Fahrradfahrer? Gelten sie nicht mehr, weil so oft gegen sie verstoßen wird, dass die Polizei aufgegeben hat, für ihre Einhaltung zu sorgen? Einen Polizisten kennt er, KOB im Bayerischen Viertel, der hat nicht aufgegeben und in der folgenden Anekdote wird er auch prompt dafür belohnt: Dr. Bürger steht mit dem KOB vor dem Fachgeschäft für Bürobedarf Xxxxxxx in der Xxxxxxxxxx Straße. Da sehen die beiden auf dem Bürgersteig gegenüber einen Radfahrer. Der KOB ruft ihm zu, er soll auf der Straße fahren. Der junge Mann auf dem Fahrrad ruft zurück: Was willst du denn von mir? und fährt weiter. Alleine schon das Du und dann noch der abfällige Ton (Du hast mir gar nichts zu sagen) -  Dr. Bürger versteht nicht, dass so mit einem Polizisten umgegangen wird. In seiner Kindheit wurden Polizisten noch als Respektspersonen behandelt. Darüber haben sie wahrscheinlich gesprochen, Dr. Bürger und der KOB, während sie nun die Xxxxxxxxxx Straße lang zur Kreuzung Xxxxxxxxstraße gingen, wo sich das Stamm-Café von Dr. Bürger befindet. Sonniger Tag. Tische, Stühle draußen. Und wer sitzt da? Der jetzt ganz schön dumm guckende Fahrradfahrer von eben, den der KOB sich nun vorknöpft.

Ein anderer, der komplizierte Fall. Kompliziert, weil es zwei Versionen gibt, die stark von einander abweichen. Was mir erzählt wurde und was ich geschildert habe im Blog. Und was Dr. Bürger mir nun erzählt. Ich mache es mir einfach. Da ich nicht einsehe, warum ich an der Version von Dr. Bürger zweifeln sollte, überspringe ich die Frage, wie es zu der in Polizeikreisen kursierenden Version kommen konnte, und vertraue Dr. Bürgers Wahrnehmung des Vorfalls: Das stimmt nicht, sagt er, dass der Polizist und ich einen längeren Weg zum Revier zurückzulegen hatten und uns dabei angeschwiegen haben, wie Sie schreiben. Der Vorfall hat sich nämlich keine fünf Minuten Fußweg vom Polizeirevier in der Gothaer Straße entfernt zugetragen. Und es war auch nicht so, dass der Polizist den Fahrradfahrer ermahnt und es dabei belassen hat. Er hat ihn nicht ermahnt. Der Fahrradfahrer ist über die Fußgängerfurt gefahren und hat vor dem ihm entgegenkommenden Polizisten angehalten. Auf seinem Fahrradsattel sitzend hat der Radfahrer den Polizisten offenbar nach dem Weg gefragt. Denn der Polizist hat darauf den Arm ausgestreckt und in die Richtung des Schöneberger Rathauses gedeutet. Der Radfahrer hat sich bedankt, der Polizist ihm freundlich zugenickt und der Fahrradfahrer ist auf der Fußängerfurt zur anderen Straßenseite gefahren. - Fußgängerfurt ist der amtliche Ausdruck für einen Fußgängerüberweg an einer Ampel und vor der Fußgängerfurt an der Kreuzung Martin-Luther/Grunewaldstraße saß Dr. Bürger im Auto, war auf dem Nachhauseweg von Ikea, wartete darauf, dass es Grün wird, beobachtete, da er nichts anderes zu tun hatte, den Fahrradfahrer und den Polizisten und konnte es nicht fassen, dass der Polizist es zugelassen hatte, dass der Radfahrer die Fußgängerfurt fahrend überquerte. Deshalb hat Dr. Bürger sein Auto in der Grunewaldstraße vor dem Gebäude des Amtsgerichts geparkt und ist dem Polizisten hinterher gegangen, um ihn nach seiner Dienstnummer zu fragen. Der Polizist hat ihn darauf gefragt: Sind Sie Professor Bürger? – Diese Frage hat Dr. Bürger nicht sonderlich überrascht. Er weiß um seine Bekanntheit bei der Polizei und er sagt es immer wieder: Die Polizei weiß alles über mich. – Statt ihm nun seinen Dienstausweis mit der Dienstnummer zu zeigen, wozu ein Polizist auf Verlangen verpflichtet ist, hat der Polizist Dr. Bürger seine Dienst-Visitenkarte gegeben. Zwei Visitenkarten, um genau zu sein, hat der Polizist ihm hingehalten mit den Worten: Wollen Sie gleich zwei? – Das hat Dr. Bürger als Provokation empfunden. Der Polizist hat ihm darauf angeboten, mitzukommen aufs Revier, um sich gleich dort über ihn zu beschweren. In seiner Verärgerung hat Dr. Bürger sich verleiten lassen, darauf einzugehen. Auf dem Revier saß er mit dem Polizisten dann schweigend vor dem Büro des Abschnittsleiters und das war natürlich bedrückend, weil es so lange dauerte bis der Abschnittsleiter Zeit für sie hätte. Das mit dem Revier hätte er sich alleine schon deshalb sparen können, weil er seine Beschwerde ohnehin noch einmal schriftlich einreichen musste. – Und was ist dann dabei herausgekommen? – Dr. Bürger: Nichts. Versandet, wie immer. – Im Antwortschreiben der Zentralen Beschwerdestelle stand, die Beschwerde, die er eingereicht hat, sei mustergültig verfasst; sie würden sie künftig zu Lehrzwecken verwenden. Lustig haben sie sich dann also auch noch über ihn gemacht.

Die Polizei versteht den Professor nicht und ist von ihm genervt. Der Professor versteht die Polizei nicht und hört nicht auf damit, sich zu beschweren über Fehlverhalten von Polizisten, das er immer wieder beobachtet. Gäbe es die Fälle von Fehlverhalten nicht, könnte er sie nicht beobachten, könnte er sich nicht über sie beschweren. Aber sind diese Fälle von Fehlverhalten denn wirklich so schwerwiegend? Muss er denn da jedes Mal nach der Dienstnummer fragen und dann die Beschwerdekeule schwingen, auch wenn es am Ende folgenlos bleibt für den betroffenen Polizisten, aber ein Stress ist es schon für ihn, bis der Amtsvorgang abgeschlossen ist, und für den Beschwerdeführer Dr. Bürger doch auch, oder?  - Fall eins: Dr. Bürger bemerkt ein falsch geparktes Polizeiauto. Polizeieinsatz? Von wegen. Der uniformierte Fahrer des Wagens hält sich im Fachgeschäft Xxxxxxx auf und kauft ein. Kauft bestimmt nicht Papier- oder Bürobedarf für das nahegelegene Revier ein, macht während der Dienstzeit einen privaten Einkauf und um die Ecke steht sein falsch geparktes Polizeiauto. Von Dr. Bürger zur Rede gestellt, behauptet der Polizist, nicht eingekauft, sondern sich nur nach etwas erkundigt zu haben. Dienstlich? Egal. Ist doch sowieso gelogen, weiß Dr. Bürger. Denn er hat gesehen, dass der Polizist an der Kasse bezahlt hat. Und ein Xxxxxxx-Mitarbeiter ist bereit, das zu bezeugen. – Das gibt eine Dienstaufsichtsbeschwerde, ist klar. – Zweiter Fall: Bayerischer Platz. Wieder falsch parkendes Polizeiauto. Dieses Mal mit Polizist hinterm Steuer. Sein Kollege auf der anderen Straßenseite an der Wurstbude. Dr. Bürger geht hin, stellt den Polizisten zur Rede wegen des Falschparkens und des Wurstkaufens im Dienst. Der Polizist behauptet nicht, dass er sich nur nach etwas erkundigt, er sagt zu Dr. Bürger: Wissen Sie was? Ich hatte heute einen Scheißtag. Jetzt habe ich Hunger und kaufe mir eine Wurst. Und da kommen Sie an und wollen sich über mich beschweren. – Was macht Dr. Bürger? – Nichts mehr. Denn dafür hat er Verständnis: Scheißtag, Hunger, Wurst. Keine Beschwerde. – Dritter Fall: Joachimstalerstraße. Vor Karstadt Sport parkt ein Polizeiauto im Halteverbot. Polizist hinterm Steuer. – Was machen Sie hier? Einsatz? – Ich warte auf meinen Kollegen. – Und der Kollege? – Kommt gleich. – Dr. Bürger nimmt sich die Zeit, wartet auf den Kollegen. – Endlich kommt der Kollege, mit einer Karstadt-Sport-Einkaufstüte in der Hand. – Sie gehen während Ihrer Dienstzeit einkaufen, während Ihr Kollege hier im Halteverbot parkt mit einem Streifenwagen. – Polizist mit Einkaufstüte: Sie haben völlig recht, das ist kein vorbildliches Verhalten. Aber morgen ist Weihnachten. Mein fünfjähriger Sohn hat sich einen Fußball gewünscht und den soll er morgen Abend auch bekommen. – Der Polizist muss nicht weiter reden über Zeitdruck und Stress vor den Feiertagen, Dr. Bürger hat verstanden: Weihnachten, kleiner Junge, Fußball. Keine Beschwerde. Selbstverständlich keine Beschwerde.  
  
Knacks. Was ist der Knacks? Wer hat einen Knacks? Dr. Bürger mit seinem Beharren auf der Einhaltung der Regeln? Fanatischem Beharren? Ist er ein Fanatiker? - Denke ich schon. Bis er das mit dem Scheißtag und der Wurst und mit Weihnachten und dem Fußball für den kleinen Jungen erzählt. Da hat er mit sich reden lassen - weil offen und ehrlich mit ihm geredet wurde. Da haben die Polizisten sich für ihn in Menschen verwandelt und die Sache, die Dr. Bürger eben noch so wichtig war, hat auf einmal überhaupt keine Rolle mehr gespielt. Die Sache. Der Knacks. Die Sache ist: Regeln, die nicht eingehalten werden, sind wertlos. Da es die Regeln gibt, müssen sie auch eingehalten werden. Das denkt er sich nicht nur so wie viele sich das denken. Dafür setzt er sich ein – jedes Mal, wenn ihm eine Regelverletzung auffällt. Das macht ihn zum Extremisten. Denn das ist nicht üblich. Das ist nicht vorgesehen. Und das ist der Knacks.
Xxxxxxx = Namen auf Wunsch von Dr. Bürger gestrichen.

Mittwoch, 24. August 2011

Klick

Dr. Bürger beginnt mit einem Satz, dem unmöglich widersprochen werden kann: Mir ist meine Gesundheit wichtig, sagt er. Damit meint er insbesondere seine körperliche Unversehrtheit. Die ist ihm so wichtig, weil er jemand ist, der sich viel bewegt. Er macht einen Sport in einem Sportverein. Er fährt Fahrrad. Er ist Inline Skater; jedes Jahr nimmt er an dem Inline-Skating-Marathon teil, der vor dem Berlin-Marathon stattfindet. Sieht Dr. Bürger einen Fahrradfahrer über einen Bürgersteig brettern, betrachtet er ihn als eine mögliche Bedrohung seiner Bewegungsfähigkeit, welche die Voraussetzung dafür ist, das Leben zu führen, für das er sich entschieden hat, weil es das beste für ihn ist. Zweimal ist er nachts schon von hinten von Fahrradfahrern, die ohne Licht unterwegs waren, angefahren worden, erzählt er. Ich weiß nicht, ob ich ihm das glauben soll, da ich mir keine nächtliche Szene vorstellen kann, in der ich auf einem Bürgersteig von hinten von einem Fahrradfahrer angefahren werde. Andererseits kann ich mir auch nicht vorstellen, dass Dr. Bürger die Unwahrheit sagt. Denn Dr. Bürger ist nichts so verhasst wie Verlogenheit. Begegnet ihm Verlogenheit, macht er keine Gefangenen, dann lässt er nicht locker, bis der Lügner entlarvt ist. Von mir weiß ich, dass dieses kämpferische Verhältnis zur Unwahrheit daher kommt, dass ich von anderen erwarte, was ich auch von mir selbst verlange: wahrhaftig zu sein selbst dann noch, wenn es weh tut. Zugleich bin ich durch nichts so leicht zu entwaffnen wie durch Aufrichtigkeit. So ist es auch bei Dr. Bürger. Überrascht ihn jemand mit seiner Aufrichtigkeit, dann kann er auch einmal über eine Verfehlung hinwegsehen. Ja, Dr. Bürger kann über Verfehlungen, auch über Verfehlungen von Polizisten, hinwegsehen.

In einem Umriss von Berlin, den er mit Kuli skizziert hat, markiert Dr. Bürger drei Punkte und verbindet sie mit einer Linie. Der erste Punkt bezeichnet den U-Bahnhof Rathaus Steglitz, der zweite seine Wohnung, der dritte die Hochschule, an der er lehrt. Auf dieser Linie bewege ich mich, sagt er. Punkt unten: U-Bahnhof Rathaus Steglitz, Einkaufen in der Schlossstraße; mittlerer Punkt: seine Wohnung; oberer Punkt: sein Arbeitsplatz, die Hochschule, an der er lehrt. Irgendwo dazwischen das Bayerische Viertel mit dem Xxxxxx, wo er vormittags Zeitung liest und auch schon mal abends hinkommt, um einen Wein zu trinken. Nur hundert Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite das weit und breit bestsortierte Fachgeschäft für Büro- und Papierbedarf: Xxxxxxx; ein Schauplatz eines von ihm beobachteten und angezeigten Dienstvergehens. Am Bayerischen Platz die Wurstbude, wo es eine ausgezeichnete Currywurst gibt, wie er sagt; Schauplatz eines weiteren Dienstvergehens - mit einem überraschenden Ausgang für den betroffenen Polizisten. Nicht weit davon entfernt das Amtsgericht auf der Ecke Grunewald-/Martin-Luther-Straße; Schauplatz eines weiteren - eklatanten - Dienstvergehens, dessen Zeuge er wurde. Was er mir demonstrieren will mit dieser Skizze: Er patrouilliert nicht, um Polizisten bei Fehlverhalten zu ertappen. Er ist einfach nur in seinem Leben unterwegs, auf dieser Linie zwischen den drei Punkten, meist mit der U-Bahn, manchmal mit dem Fahrrad, manchmal mit seinem Auto. Fast alle von ihm beobachteten Fälle polizeilichen Fehlverhaltens haben sich auf dieser Linie oder in ihrem Umkreis ereignet. Und jetzt wird es ein bisschen unübersichtlich: Auf dieser Linie haben sich auch die Fälle von Taschendiebstahl ereignet, mit denen er befasst war.

Unübersichtlich wird es, weil ich ihm da nicht so gut zugehört habe. Und ich habe ihm nicht so gut zugehört, als er mir das mit den Taschendiebstählen erzählt hat, weil es mir nicht in den Kram passte. Weil er da nicht mehr der Dr. Bürger ist, den ich in ihm sehen kann, wenn ich es gut mit ihm meine. Weil das mit seiner Geschichte der Dienstaufsichtsbeschwerden und mit seiner Rolle als oberster Beschwerdeführer nichts zu tun hat. Weil es ihn zu beschädigen scheint in dieser Rolle (allerdings könnte es auch sein, dass es sie erklärt). Wir erleben ihn hier als einen Hilfssheriff, der sich den Stern selbst an die Brust geheftet hat. So kommt es mir jedenfalls vor. Die Fakten im Schnelldurchlauf: 1993 sieht Dr. Bürger auf RTL einen Bericht über Taschendieb-Banden aus Südosteuropa. Da macht es Klick bei ihm. Seine Aufmerksamkeit ist ab jetzt geschärft. Auf seinen Fahrten mit der U-Bahn schaut er nun ganz genau hin und bekommt schnell ein Auge für das typische Verhalten der Diebe. Eine alte Dame, an die sich zwei Diebe – im fast leeren U-Bahnwagen – dicht herangedrängt haben, bewahrt er davor, ausgeraubt zu werden. Er kooperiert mit der Polizei. Gibt Hinweise. Bekommt Einblick in Täterdateien. Nimmt sogar einmal an einem Einsatz teil, bei dem zwei Taschendiebe gestellt werden sollen, die er identifiziert hat. Doch die beiden Diebe können entkommen. Als die Polizei zugreifen will, fliehen sie in entgegengesetzte Richtungen. Und die Polizisten machen, nach Einschätzung von Dr. Bürger, den Fehler, sie beide zu verfolgen, statt ihre Kräfte auf einen der Flüchtenden zu konzentrieren. – Vorschlag: Professoren in die Strafverfolgung. Ich verkneife mir den Kalauer und Dr. Bürger greift in die linke Innentasche seines Sakkos. Er zeigt mir einen Gegenstand, den ich auch gerne hätte. Einen Produkt-Klassiker: Panasonic SV-AV100. Als sie auf den Markt kam vor etwa zehn Jahren, die wahrscheinlich kompakteste Videokamera der Welt. Passt in eine Hand. Sucher herausklappbar. Speichermedium: eine herausnehmbare Chip-Karte. Mit dieser Kamera hat Dr. Bürger seine Beobachtungen von Taschendieben in U-Bahnwagen und –Bahnhöfen dokumentiert und auf der herausnehmbaren Chip-Karte konnte er das Beweismaterial an die Polizei weitergeben. Die war erst dankbar für diese Unterstützung ihrer Arbeit und hat ihm dann von höherer Dienststelle eines Tages einen Brief geschrieben. Darin stand, dass er mit seinen Videoaufnahmen das Recht am eigenen Bild der von ihm gefilmten Personen verletzt. Das hat Dr. Bürger nicht verstanden, dass das Recht am eigenen Bild auch für mutmaßliche Straftäter gelten soll. Das versteht er bis heute nicht. – Wir haben dieses Thema in unserem Gespräch nicht weiter verfolgt. Wenn ich es richtig interpretiere, endete mit dem Brief die Zusammenarbeit von Dr. Bürger mit der Berliner Polizei. Frage: Nach dem Klick nun der Knacks? Dr. Bürger enttäuscht, verbittert. Er richtet seine geschärfte Aufmerksamkeit fortan nicht mehr auf die Taschendiebe, er richtet sie stattdessen auf die Polizei: auf ihr Versagen und ihre Verfehlungen. – Versuch, mir Übersicht zu verschaffen. Psychologisierend. Besser, Dr. Bürger danach fragen, wie das damals war. Doch zuvor noch zwei Dienstaufsichtsbeschwerden und zwei Fälle, in denen Dr. Bürger auf eine Beschwerde verzichtet hat. Warum? – Fortsetzung folgt.  
Xxxxxx = Namen auf Wunsch von Dr. Bürger gestrichen.

Dienstag, 23. August 2011

Beschwerdeführer

Was will er? Was will ich? – Er ist Dr. Bürger. Professor Dr. Bürger (*). Bekannt als oberster Beschwerdeführer. Schreckgespenst der Polizisten des Abschnitt 41 und der angrenzenden Abschnitte. Oder wie ein Polizist ihm mal im Vertrauen gesagt hat: Sie sind der meistgehasste Bürger bei der Berliner Polizei. Meine Frage, wie viele Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Polizisten er schon eingereicht hat, kann er nicht beantworten oder er will sie nicht beantworten. Um nicht dazustehen wie ein Freak? Monoman, besessen, fixiert darauf, Fehlverhalten von Polizisten anzuprangern? – Wenn er emeritiert sein wird, das ist nicht mehr allzu lange hin, will er ein Buch schreiben über seine Erlebnisse mit der Berliner Polizei, erzählt er und legt Wert darauf, dass er diese Erlebnisse nicht gesucht hat. Sondern? Das ist eine der Fragen, die ich noch nicht beantworten kann: Was ist das für ein Mann? Und was treibt ihn um? – Auf jeden Fall ist es keineswegs so, dass er nichts Besseres zu tun hat, als Polizisten aufzulauern, um sie bei Dienstvergehen zu beobachten. Neben seiner Lehrtätigkeit an einer Hochschule ist er seit 40 Jahren in einem Sportverein aktiv, als Trainer und als Kampfrichter. Während der Semesterferien kommt er fast täglich vormittags ins Xxxxxx im Bayerischen Viertel, um dort Zeitungen zu lesen, mehrere Berliner und überregionale Zeitungen, die dort ausliegen. Und wäre er nicht mit mir verabredet gewesen, im Xxxxxx, wäre er zu dem Prozess gegen den U-Bahn-Schläger gegangen, der heute im Landgericht begonnen hat, sagt er. Doch dann fällt ihm ein, dass das gar nicht möglich gewesen wäre, weil der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden wird wegen Minderjährigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Tat. Er erzählt von Prozessen, die er sich angeschaut hat, unter anderem vom Prozess gegen Rocky Rocchigiani; da saß hinter ihm der Clan des angeklagten Boxers und was sich da abspielte hinter ihm und vorne im Gerichtssaal, das mitzuerleben war spannend. Er empfiehlt das auch seinen Studenten, Gerichtsverhandlungen zu besuchen. Sie sollen sich nicht nur für ihr Studium interessieren, sie dürfen ihr Privatleben nicht vernachlässigen und sie sollen auch Anteil nehmen am öffentlichen Leben. Bei Gerichtsverhandlungen, da wird Recht gesprochen im Namen des Volkes. Hey! - Das sagt er öfter: Hey! Meist sagt er Hey!, wenn er erzählt von einer Entdeckung, die er gemacht hat. Beispiel: Er fährt einem Fahrradfahrer hinterher, nachdem er beobachtet hat, wie der viermal bei Rot weitergefahren ist (nicht bei eben Rot geworden, bei ROT!). Er folgt ihm über den Tempelhofer Damm, wird Zeuge, wie der Fahrradfahrer noch weitere zehn rote Ampeln ignoriert und dann, der Hammer, sagt er, dann erreicht der Fahrradfahrer sein Ziel und das ist: ein Polizeirevier. Hey! Der Mann ist Polizist, stellt sich nun heraus, und er überfährt 14 mal eine rote Ampel auf dem Weg zu seinem Dienst. Das gibt eine Anzeige, ist klar. Das sagt er auch immer wieder: Das gibt eine Anzeige. Das gibt eine Dienstaufsichtsbeschwerde, ist klar. – Er redet schnell. Er redet engagiert, aber nicht aufgeregt. Er verhaspelt sich nicht, er wiederholt sich nicht. Trotzdem habe ich nach zwei Stunden Zuhören den Eindruck, dass es immer die gleiche Geschichte ist, dass es immer das Gleiche ist, was ihm da mit Polizisten passiert, und ich kann jetzt nicht mehr. Ich sage ihm, dass ich das alles jetzt erst einmal verarbeiten muss. Das versteht er. Wir lassen das Gespräch ausklingen, ich frage ihn nach seinem Sport, er stellt mir Fragen zu meinem Blog. Doch es fällt ihm immer wieder ein Vorfall, noch ein Erlebnis mit einem Polizisten ein. Ich kann es nicht mehr hören und ich könnte denken, das ist ein deutliches Zeichen von Besessenheit, dass er nicht loskommt von dem Thema. Aber es ist nun mal auch das Thema, wegen dem wir uns getroffen haben, und so viele Gelegenheiten wird er nicht haben, sich darüber auszusprechen. Auf dem Tisch liegt meine Lesebrille, die ich aufsetze, wenn ich mir Notizen mache. Jetzt setze ich sie auf, um mir Herrn Bürger noch einmal genau anzuschauen. Es bleibt bei dem Eindruck, den ich von Anfang an hatte: Er ist ein sympathischer Mann. Er ist mir so sympathisch wie es mir die beiden Polizisten waren, die ich interviewt habe für den Blog. Ich verstehe mich mit ihm nicht so gut wie mit dem jüngeren der beiden Polizisten. Und er ist mir weniger fremd, als der ältere der beiden Polizisten es mir war. Fremd ist er mir trotzdem. Was will ich von ihm? Ich würde ihn gerne verstehen. Und wenn mir das gelingt, möchte ich versuchen, eine Kommunikation herzustellen zwischen ihm und den Polizisten, die sich von ihm verfolgt fühlen.

(*) Name wegen Anonymisierung erfunden. Siehe dazu den Anfang von Schutzmann 2.
Xxxxxx = Name auf Wunsch von Dr. Bürger gestrichen.

Montag, 22. August 2011

Verwackelt

It´s a Sony!

Ich spreche mit dem dritten Saturn-Verkäufer, den ich in den letzten zehn Tagen kennengelernt habe. Ihn heute Morgen. Ich überspringe, was zur Pentax Optio RS1500 noch zu sagen war. Nur so viel: Entspiegelte Displays gibt es erst bei Kameras ab 300 Euro aufwärts. Unter 300 Euro muss man seine Hand zur Hilfe nehmen, um das Display vor dem einfallenden Sonnenlicht zu schützen. Auch die 119.90-Euro-Kamera von Sony hat kein entspiegeltes Display und sie hat auch sonst nichts, was sie von der Pentax unterscheidet außer dem Namen, sagt der dritte Saturn-Verkäufer. Aber wenn ich die Pentax zurückgeben möchte, bitte! – Ich suche nach einer Entscheidung, der Verkäufer ist mir dabei nicht hilfreich. Ich sage: Unser Gespräch stagniert. Sie können mich jetzt gerne alleine lassen. Es war bestimmt nicht angenehm für Sie, mit mir zu reden. Er widerspricht mir nicht und verabschiedet sich. Ich habe kein Kriterium für eine Entscheidung außer meinem Markenidiotismus (siehe Frustriert). Ich werde mir die Typenbezeichnung der Sony-Kamera notieren, um im Internet Testberichte über sie zu lesen. Ich gehe zu einem Verkäufer, den ich noch nicht kenne, und bitte ihn um einen Stift und Papier. Er sagt, den Stift müssen Sie mir aber wieder zurückgeben. Ich antworte, dann kommen sie doch zur Sicherheit mit mir, und wenn Sie schon dabei sind, können Sie mir auch gleich Ihre Meinung sagen. Das wäre dann die vierte. – Oh, vier Meinungen sind zuviel, meint er. – Wer weiß, sage ich spielerisch, nicht weil ich es für möglich halte, dass er mir etwas anderes sagen wird als seine drei Kollegen. Ich: Die Sony hier oder die Pentax dort. Was meinen Sie? – Er: Die Sony hat das bessere Objektiv. Zeiss. – Zeiss. Carl Zeiss. Abschweifung: Die Kameras, die bei der ersten Mondlandung im Einsatz waren, die waren mit Linsen von Carl Zeiss ausgestattet, die eigens dafür entwickelt worden waren, bei dem schummrigen Licht auf der Rückseite des Mondes fernsehtaugliche Bilder hinzukriegen. Stanley Kubrick hat die gleichen Linsen später bei seinen legendären Candle Light Shots verwendet, um in Barry Lyndon die Beleuchtung in Interieurs des 18. Jahrhunderts nachzubilden. So etwas merke ich mir. Das werde ich der Firma Carl Zeiss nie vergessen. Zeiss-Optik gut. Das Sony für 119.90 Euro hat ein Zeiss-Objektiv. Außerdem sehe ich nun in den Daten der Kamera: Bildstabilisator: elektronisch. – Ich: Der Bildstabilisator der Pentax ist doch digital.  – Richtig, sagt der Verkäufer. – Und? frage ich. – Digital heißt, da wird das Bild korrigiert, wenn möglich. Elektronisch heißt, das Verwackeln wird in der Kamera ausgeglichen. - Also da, wo das Verwackeln passiert, in der physischen Welt, da wird es auch ausgeglichen. Bevor das Bild verwackelt ist. – Richtig. – Ich bin ein Verwackler, weil ich so impulsiv bin. – Dann sollten Sie die Sony nehmen, denn der elektronische Bildstabilisator ist alleine schon die 20 Euro mehr wert. Sagt nicht er. Sage ich mir. 

Zweiter Teil: Zu Hause beim Auspacken der Kamera bemerke ich, dass der Karton schon einmal geöffnet worden ist, der Akku sich bereits in der Kamera befindet, die Schutzfolie auf dem Display fehlt. Jemand hat diese Kamera gekauft und zurückgegeben, so wie ich heute Morgen die Pentax zurückgegeben habe. Ich möchte der Typ sein, der das ganz gelassen sieht und das geht dann auch in Ordnung, weil sich zeigen wird, dass die Kamera selbst in einem einwandfreien Zustand ist. Ich bin nicht dieser Typ. Ich rufe bei Saturn in der Tauentzienstraße an und werde verbunden mit der Fotoabteilung, mit Herrn Schulz. Seit ich bemerkt habe, dass schon jemand vor mir die Kamera hatte, geht mir unentwegt der Satz durch den Kopf: Idioten passieren idiotische Sachen. Aber ich ziehe das jetzt durch, sonst gibt es tagelang keine Ruhe. Es ist mir auch nicht peinlich Herrn Schulz gegenüber. Ich bin mir nur selbst peinlich. Und deshalb drücke ich mich so umständlich aus, dass Herr Schulz mich nach eineinhalb Sätzen unterbricht: Kommen Sie noch mal vorbei, dann kriegen Sie eine Originalverpackung. – Herr Schulz erlebt das offenbar nicht zum ersten Mal. Herr Schulz gibt mir das Gefühl, kein Idiot zu sein. Herr Schulz ist sowas von unkompliziert und verständnisvoll, dass ich ihm das gleich mehrmals sagen muss, nachdem er vor meinen Augen eine Originalverpackung geöffnet hat, um zu überprüfen, ob ihr Inhalt komplett ist. Als ich mich ein letztes Mal bei Herrn Schulz für seine Unkompliziertheit bedankt habe, sage ich, das werde ich weitererzählen. Das habe ich jetzt getan.

Sonntag, 21. August 2011

Frustriert

Bild: Der Mittvierziger lehnt an seinem Motorrad und hinten auf seinem gebügelten schwarzen Hemd steht Harley Davidson im gleichen Schriftzug wie auf dem wuchtigen Tank des Motorrads: Harley Davidson. Der Mann ist Mitte Vierzig, seine Haare sind schulterlang; er hat seine muskulösen Arme vor seiner muskulösen Brust verschränkt. Kein Rocker. Kein schwarzes Leder. Kann sein, dass er in der Woche Krawatte trägt. 

Digitale Kamera: Am liebsten hätte ich mir die von der Firma Sony gekauft. Weil ich mit dieser Marke die besten Erfahrungen gemacht habe. So ist zum Beispiel das Laptop, an dem ich das hier schreibe, das einzige Gerät in meinem Leben gewesen, nach dessen Kauf ich keinen After-Sales-Frust hatte. Aber dann hat der Verkäufer gestern gesagt: Warum wollen Sie denn 20 Euro mehr ausgeben, wenn Sie die gleiche technische Ausstattung auch von Pentax bekommen? Und dazu noch eine Fünf-Jahre-Garantie, für die Sie beim Sony-Teil noch mal 20 Euro mehr zahlen müssen. Insgesamt 40 Euro mehr. Nur für den Namen? – Also wollte ich kein Markenidiot sein und habe mich für die Pentax Optio RS1500 entschieden. Das ist die Kamera, von der ein anderer Verkäufer letzte Woche sagte, sie sei für ihren Preis (99.90 Euro) die beste. Sie sehe eben nur scheiße aus. Das finde ich nun aber gar nicht: Bitte gucken! Sie sieht nur anders aus als die anderen und das gefällt mir von Stunde zu Stunde besser. Außerdem hat sie ein größeres Display als die vergleichbaren Kameras. Warum bin ich trotzdem nicht zufrieden? – Weil ich vorhin beim Ausprobieren der Kamera - auf dem Balkon war das, als die Sonne noch schien -, weil ich da auf dem großen Display nicht den Turm des Schöneberger Rathauses gesehen habe, auf den ich die Kamera gerichtet hatte, sondern ein Spiegelbild meines Gesichts und im Hintergrund die strahlend weiße Balkonwand in meinem Rücken. Das Display ist also nicht entspiegelt. Der Bildschirm meines Sony-Laptops ist entspiegelt (der Bildschirm meines anderen Laptops, von der Firma Samsung, ist es nicht). Wäre die um 20 Euro teurere Kamera von Sony entspiegelt gewesen, frage ich mich jetzt. Aber mehr noch als das beschäftigt mich im Nachhinein die Frage, warum die bei Saturn so darauf aus waren, mir die Pentax Optio zu verkaufen und warum sie die Kamera ohne Aufpreis mit einer Fünf-Jahre-Garantie anbieten, für die sie sonst 20 Euro verlangen. Das habe ich gestern den Verkäufer mehrfach gefragt und keine Antwort darauf bekommen, an die ich mich jetzt noch erinnern kann. Denkwürdig war nur die nebenbei gemachte Bemerkung, dass die Lebensdauer solcher Kameras im Durchschnitt dreieinhalb Jahre beträgt - so dass eine Fünf-Jahre-Garantie doch eigentlich reines Showgeschäft ist.

Mein After-Sales-Frust wird sich entweder morgen verlieren oder Fortsetzung folgt mit einem Bericht über eine Umtauschaktion. Deswegen hatte ich die Kamera vorhin auch nicht dabei und konnte den stolzen Harley Davidson-Fahrer nicht fragen, ob ich ihn fotografieren darf von vorn und von hinten. Und deshalb gibt es hier heute nicht meine ersten Fotos und auch keinen Text, der so angefangen hätte: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Aber vielleicht ein gutes?  - In dem Text wäre es um zwei Nachrichten gegangen: Mit der einen hat sich ein seit Wochen beleidigter Freund zurückgemeldet - auf eine Art, die so ist, dass ich ihm auch weiterhin nicht helfen kann. Die andere ist eine heimliche Botschaft der Unbekannten von der anderen Straßenseite. Sie lautet: A good joke spoiled. - To spoil = verderben. Darauf habe ich gestern im anderen Blog geantwortet. Blöde Botschaft, blöde Antwort. Trotzdem: Hätte ich die Wahl gehabt, wäre ich heute viel lieber wegen der blöden Botschaft frustriert gewesen, als abgelenkt zu sein vom Frust nach dem Kauf von gestern.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen. - Aber vielleicht ein gutes? 

Samstag, 20. August 2011

Sommer

Sie hat ein Gesicht, das ich stundenlang anschauen könnte, ohne mich zu langweilen, und ebenso lange könnte ich ihr zuhören. Zuerst hatte ich sie gar nicht erkannt, als ich aus dem Wasser kam und zu meinem auf der Terrasse abgelegten Handtuch ging. Sie saß auf der obersten Terrassenstufe, braungebrannte zierliche Frau mit dichtem dunklen Haar; hat mit kleinen Schlucken Tee getrunken aus dem Becher ihrer Thermosflasche und zu mir hergeguckt, so dass ich fragte: Kennen wir uns? – Sie: Wir hatten einmal … . Das reichte schon, um sie zu erkennen an ihrer Stimme: Adriana! Ich sehe so schlecht. Es ist nicht zu fassen. – Ich hatte sie auch deshalb nicht erkannt, weil ich nicht damit gerechnet hatte, ihr hier zu begegnen: Freibad Forckenbeckstraße. Seit Wochen das erste Mal sommerliches Wetter. Donnerstag war das. Du hast es schon hinter dir, meinte sie. Das Schwimmen hinter mir. Nichts dazu gesagt, ihr zugehört. Es genossen, auf der warmen Steinplatte zu sitzen, meine Haut von der Sonne trocknen zu lassen und ihr zuzusehen, wie sie den heißen Tee trinkt aus dem mit beiden Händen umfassten Becher und dabei spricht über Schwimmbadthemen erst und dann erzählt von der Lesereise mit ihrem Buch, an Orte, wo man sonst nie im Leben hinkommt: Troisdorf zum Beispiel. Sie redet und ich streue Bemerkungen und Fragen ein, bis unser Dialog sein Thema findet, nachdem ich ihr die richtige Frage gestellt habe. Die richtige Frage lautet: Ist dein Sohn immer noch so ein interessanter Charakter? – Das hast du gut ausgedrückt, sagt sie und legt los mit der Beschreibung seiner Unerträglichkeit. Von allen Eigenschaften des pubertierenden 15jährigen für sie am schlimmsten: seine Arroganz. – Will er nichts mehr von dir wissen? – Wenn er so weiter macht, will ich nichts mehr von ihm wissen. Wenn sie könnte, würde sie ihn hassen. Geht nicht. Wegen Mutterliebe. Und stolz auf ihn muss sie zu alledem auch noch sein. Nächstes Jahr macht er Abitur. – Was? Hat er Klassen übersprungen? – Ja, aber er ist dem überhaupt nicht gewachsen. Weil er noch nicht die Sekundärtugenden hat, wie Fleiß und Disziplin, die man erst kriegt ab 17. Heißt: In Fächern, die ihn interessieren, wie Deutsch, Geschichte etc., hat er Einsen, weil da muss er nichts für machen. Und in den naturwissenschaftlichen Fächern, wo er was tun müsste, da ist er schlecht. - Wusste ich nicht, dass Hochbegabte schulisch schlecht sein können wie alle anderen auch. Aber jetzt, da sie es sagt. Und dazu die Vorstellung, dass der 15jährige mit deutlich älteren Mitschülern, jungen Männern schon, in eine Klasse geht und umgekehrt: die mit jemandem, der in ihren Augen noch ein kleiner Junge ist, der aber dann zum Beispiel bessere Aufsätze schreibt als sie. Vor ein paar Jahren hat er – vom Schulhof weg gecastet – in dem ARD-Zweiteiler Nicht alle waren Mörder mitgespielt. Nachdem der Film mit großem Erfolg gelaufen war, hat er vom damaligen ARD-Programmdirektor Struve einen Brief bekommen, den wahrscheinlich dessen Sekretärin geschrieben hatte. In dem Brief hat der Programmchef ihn mit Sie angeredet und ihm gratuliert zu seiner schauspielerischen Leistung in der Produktion Alle waren Mörder. – Er  hat darauf in seiner Kinderhandschrift zurückgeschrieben, dass Herr Struve ihn gerne mit Du anreden könne, weil er erst elf sei, und außerdem könne er ihn beruhigen: Nicht alle waren Mörder. – Inzwischen hat Adriana den Becher auf ihre Thermosflasche geschraubt und ihr Sweatshirt ausgezogen. Sie trägt einen Badeanzug in dem neuen leuchtenden Rot, das mir zum ersten Mal in den 80er Jahren in einer Coca Cola-Werbung aufgefallen ist. – Schöner Badeanzug. Gutes Rot, sage ich. – Den habe ich mir gekauft, damit wenigstens ich mich sehe, antwortet sie, zieht ihre Badekappe auf und fragt: Und du? – Ich? Ach, über mich reden wir beim nächsten Mal, wenn wir uns wieder hier treffen, antworte ich und freue mich jetzt schon darauf, wieder neben ihr zu sitzen, sie von der Seite zu betrachten, wie sie in kleinen Schlucken Tee trinkt und ihr zuzuhören. Mir wird schon wieder die richtige Frage einfallen, damit ich nicht über mich reden muss. Denn das war das Schöne an dem Morgen: Mit ihr auf den warmen Steinplatten in der Sonne zu sitzen und keine Sekunde an mich zu denken.

Freitag, 19. August 2011

Uliane

Wer hat das Glück, machen zu können, was er will? – Wer? – Uliane Borchert, in deren Atelier ich auf der Couch sitze, ihr nun schon seit mehr als zwei Stunden zuhöre und jetzt geht es gerade um den geringen Betrag, den sie für ihren Unterricht verlangt: 100 Euro für fünf Unterrichtsstunden (1 Unterrichtsstunde = 3 ½ Stunden auf der Uhr). Uliane Borchert bereitet Bewerber auf die Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie vor. An der Akademie Burg Giebichenstein in Halle, die sie für die beste hält, gibt es pro Jahr 1800 Bewerber, von denen kommen 30 in die engere Auswahl und von denen werden gerade mal sechs genommen. Uliane hat mit ihren Schülern eine Erfolgsquote von 95 Prozent.

Sie zeigt mir zwei Bilder ihres Lieblingsschülers, des inzwischen sehr erfolgreichen Gerit Koglin. Dem hat sie, als er nach zwei gescheiterten Bewerbungen zu ihr kam, als erstes seinen Graffiti-Malstil ausgetrieben und ihm Grundlagen des Zeichnens beigebracht. Das nächste Bild, das ich sehe, ist ebenfalls eine Arbeit eines ihrer Schüler. Es hängt in der Küche, wo Uliane uns Tee macht. Porträt Ulianes als Lehrerin: Strenge Lehrerin. Unerbittlich. Fordernd. Stur. Kein Lächeln. Nicht Nett. Was ist das weibliche Analogon zu harter Hund? - Das Bild hat aber auch Witz, sagt Uliane. Sagt es, um zu illustrieren, was sie gerade eben meinte, als sie bei den Eigenschaften, die ein Künstler mitbringen muss, auch Humor und Witz nannte. Da habe ich ihr zum ersten Mal widersprochen: Humor? Witz? Tut es nicht auch Esprit? Dieser ganze Komplex Humor-Witz-Ironie ist dermaßen inflationiert. Versicherungsvertreter sind witzig, Harald Schmidt ist witzig, Werbefernsehen ist witzig, alles und jeder ist so witzig, dass es gar nicht mehr anders geht. Aber diese Art von Witz, meinte sie nicht. Esprit meinte sie auch nicht. Wahrscheinlich meinte sie etwas, das früher Pfiffigkeit genannt wurde. Pfiffig ist Werbefernsehen allerdings auch in seinen besten Momenten. Egal. Hauptsache, ich konnte ihr mal widersprechen und es ging nicht immer so weiter, dass ich ihr nur mauloffen staunend lausche. Staunend vor allem darüber, wie reflektiert sie ist, wie sie so genau weiß, worum es geht in der Kunst, weiß, was sie tut als Kunstpädagogin und als Künstlerin, und das mit einer Klarheit und einer Entschiedenheit auszudrücken vermag, wie ich es auch nicht erwartet hatte von ihr.


Papiertüte    Acryl mit Sand auf Rupfen    2007

Was hatte ich erwartet? – Dass es heikel werden könnte, unser Treffen in ihrer Wohnung in der Beltzigerstraße, in der sie auch ihr Atelier hat. Angefangen hatte alles vor ein paar Wochen auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber in der Galerie subjectobject, als ich zu Liljana sagte, wie konventionell viele gegenwärtige Künstler malen. Darauf hatte sie mir in  ihrem Büro am PC zwei Bilder von einer Künstlerin gezeigt, die sie sehr schätzt, und gemeint, die sollte ich kennenlernen. –JA! habe ich gesagt. Unbedingt. -  Sie gab mir ihre Karte, ich habe mir ihre Website angeschaut und festgestellt: Die kenne ich. Weiß gar nicht, wie lange schon. Mehr als zehn Jahre grüßen wir uns, freuen uns jedes Mal, wenn wir uns begegnen, ohne dass klar ist, warum. Denn wir haben noch nie miteinander gesprochen. Sehen und grüßen uns im Felsenkeller, auf der Akazienstraße oder an der Ampel vor dem Schöneberger Rathaus, wenn sie mit ihrem Mann vom Flohmarkt kommt. Haben eine über die Jahre gewachsene Sympathiebeziehung. Einfach so. Aber auch so ungeklärt diese große wechselseitige Sympathie, dass es besser ist, es bleibt dabei, denn besser kann es nicht werden, nur mit einer Enttäuschung kann es enden, wenn sich zeigt, dass ich nicht der bin, für den sie mich hält, oder ich … – wie schnell fällt mir was auf, weshalb ich jemanden dann doch nicht so toll finde. Nein, ganz so schlimm ist es nicht. Aber ein Risiko ist es eben schon, mit einem solchen Sympathie-Vorschuss sich nun näher kennenzulernen. 

Wie ging es aus? – So, dass es Uliane gegen Ende meines Besuchs leid tat, dass sie mich so vollgequasselt hat. Worauf ich nur sagen konnte: Das hast du gut gemacht. Das muss dir nicht leid tun. – Nur über ihre Arbeiten haben wir nicht so ausführlich gesprochen, wie ich es mir gewünscht habe. Das holen wir nach, wenn wir uns nächste Woche noch einmal treffen. Heute ging es neben ihrer Unterrichtstätigkeit vor allem um das, was sie zusammengefasst hat mit dem Satz: Ich stehe für etwas. – Für was? – Für die Familie, aus der ich komme. – Eine baltisch-deutsche Künstlerfamilie: ihre Großeltern Maler, ihr Vater Kunstprofessor und Maler. Dafür steht sie und sie steht für das, was sie aus sich gemacht hat, als sie nach einer mehrjährigen Lebenskrise 1983, da war sie 40, aus ihrer 68er-Biographie ausgebrochen ist und wurde, was sie heute ist: Glücklich, machen zu können, was sie will.


Der Teppich meines Vaters    Acryl auf Leinwand     2007

Zum Schluss hat sie mir noch ein Transparent gezeigt, das in der Galerie hing, die sie zwischen 2004 und 2010 zusammen mit ihrem Mann Thomas Schelenz in der Langenscheidtstraße hatte. Auf dem Transparent steht ein Zitat von Claude Debussy. – Debussy bedeutet mir sehr viel, habe ich gesagt. – Ach? – Ja. – Mir auch, meinte sie. Kunst, Literatur, Musik, das ist für mich alles eins. – Hätte ich auch sagen können den Satz und hätte dann noch Film genannt. –  Der Debussy-Satz auf dem Transparent geht so: Es liegt schon eine einzigartige Ironie darin, dass das gleiche Publikum, das nach >Neuem< verlangt, jedesmal dann außer Fassung gerät und sich mokiert, wenn man versucht, es aus seinen Gewohnheiten und seinem eingefleischten Wohlbehagen herauszulocken. Das mag manchem unverständlich vorkommen, aber man darf nicht vergessen, dass ein Kunstwerk, ein Versuch zur Schönheit, auf viele Leute wie eine persönliche Beleidigung zu wirken scheint.


Website von Uliane Borchert.
Bilder: © Uliane Borchert, 

Donnerstag, 18. August 2011

Implantat

Von 1996. Großer Humor. Nie vergessener Satz. Nur an den Namen des US-amerikanischen Basketballspielers erinnere ich mich nicht mehr. NBA-Star, der in einem Interview angesprochen wurde auf seine hochdotierten Werbeverträge und darauf geantwortet hat: Geld, Geld, Geld. Jeder redet nur von Geld. Alles, was ich will, ist Basketball spielen, Pepsi trinken und Reebok tragen. (*)

Satz gleich nach dem Aufwachen heute morgen: Alles, was sie will, ist ihren Mann fellationieren, Pornos mit mir gucken und eine schöne Unbekannte sein.

Klappentext für einen Roman? Oder ist das schon der Roman? Roman in einem Satz. Die guten langen Romane sind alle schon geschrieben. Jetzt Instant-Romane. Kein Bücher-Geschleppe mehr. Kein Rumgefummele mehr in Dünndruckausgaben. Bequem herunterzuladen auf das Mobiltelefon. Satz lesen, mit sich herumtragen. Der Satz lässt einen nicht mehr los. Füllt sich mit Assoziationen. Vernetzt sich ins Bewusstsein. Die guten langen Romane sind alle schon geschrieben. Die Bauformen sind alt und bekannt. Aber das Leben ist längst ein ganz anderes. Und wer hat noch die Zeit, 1014 Seiten (Anna Karenina) oder 1582 Seiten (Krieg und Frieden) zu lesen? Fernsehen ist keine Alternative: Fernsehen ist der nahe Tod. Fernsehen verkürzt die Lebenserwartung.  – Die Antwort ist der Instant-Roman. Ein Satz. Einmal gelesen und nie wieder vergessen, breitet sich aus im biografischen Material. Bild einer im Wasserglas sich auflösenden Brausetablette. Aber keine Tablette. Nur ein Satz. Implantat. Lektüre-Implantat.  

Alles, was sie will, ist ihren Mann fellationieren, Pornos mit mir gucken und eine schöne Unbekannte sein.

(*) Recherchiert: Der Spieler heißt Shaquille O´Neal. Hier das Zitat in der OriginalfassungIch bleibe bei meiner Version. 

Mittwoch, 17. August 2011

Extrascharf

Es hat keine überraschende Wendung gegeben. Nichts hält mich davon ab, über den offenen Brief von Frau Schwarzer an Frau Roche zu schreiben. Und der Ansatz, mit dem ich das tun wollte, funktioniert nicht. Ich wollte die beiden Schoßgebete-Rezensionen von zwei Männern (Buß, Krekeler) neben die Rezension von Frau Schwarzer stellen, die ihr offener Brief an Frau Roche ist. Das wollte ich so arrangieren,  dass ich die drei Buchbesprechungen referiere (ohne Zitate), so dass nicht von vornherein erkennbar ist, wer was geschrieben hat. Ich wollte, dass die Mackerhaftigkeit der Frau Schwarzer sich selbst zu erkennen gibt und sich abhebt als Mackerhaftigkeit der deutschen Berufsfeministin von der branchenüblichen Mackerhaftigkeit der Berufsfeuilletonisten. Das hat nicht funktioniert. Weil es mir immer so geht mit ausgedachten Ansätzen und: weil die Haltung Frau Schwarzers, die sie gegenüber Frau Roche einnimmt, nicht mackerhaft ist. Sie ist herablassend und sie ist gönnerhaft: Du bist trotz allem eine Feministin, wenn auch eine Feministin auf dem Trip. Aber das ist auch ein Spiel, ein Rollenspiel, in dem Frau Schwarzer die Rolle des Über-Ich annimmt, als das Frau Roche sie beschwört. Dann zum Beispiel, wenn sie mit ihrem Mann tut, was sie eigentlich gerne tut, aber nicht tun dürfte, wenn sie auf das feministische Gewissen hören würde, das sie in Wahrheit gar nicht hat. Das sie nur zu haben vorgibt, um dem, was sie gerne tut: z.B. ihren Mann zu fellationieren, mit ihm Pornos zu gucken oder mit ihm ein Bordell zu besuchen, einen Kick zu geben ins unheimlich Verruchte, das es ohne das schlechte feministische Gewissen nicht hätte. Darauf weist auch Frau Schwarzer hin: Frau Roches Mann ist katholisch. Er gibt sich den extrascharf machenden Kick durch das Verbotene mit der Erinnerung an seine religiöse Erziehung. Und Frau Roche gibt sich den extrascharf machenden Kick, indem sie beim Analsex an Frau Schwarzer denkt? Unwahrscheinlich. Doch an Frau Schwarzer denken beim Analsex, das tut auch nicht Frau Roche – Roman! –,  das tut Frau Roches Alter-Ego im Roman. Für die Galerie. Das sind Materialien für die Rezensionsmacker und das ist der Gesprächsstoff für die Talkshows, durch die Frau Roche nun tingeln wird und denen sie damit die Themen vorgibt. Schlaue Frau Roche. Wer kann ihr noch was erzählen? – Frau Schwarzer hat es versucht mit ihrem rührenden offenen Brief: Oma an Häschen. – Merkwürdig ist – aber nur auf den ersten Blick – eine Bemerkung Frau Schwarzers gegen Ende ihres Briefes an Frau Roche. Da behauptet sie etwas, was grob gelogen ist (SPON). Oder ist ihr etwas entgangen, weil sie es gerne anders hätte? Es geht um die Reaktion der Feuilletons: In denen wirst du interessanterweise von den meisten Frauen beschwärmt, von den meisten Männern aber verrissen. Sie scheinen dich nicht zurückzulieben, die Männer, schreibt Frau Schwarzer. Was hat sie denn gelesen? Nicht die FAS? Nicht Spiegel Online? Nicht die taz? Und auch nicht Die Welt, für die es offenbar Ehrensache war, das Buch gut besprechen zu lassen (von einem Mann), trotz des Privatkriegs, den Frau Roche gegen die Springer-Presse führt? Hat Frau Schwarzer vielleicht nur den Verriss in der Süddeutschen  gelesen? Und weil der so böse war, hat sie angenommen, da werden die anderen Kerle das Buch ihrer ehemaligen Freundin auch niedergemacht haben, und darauf hat sie seufzend gedacht: Warum tut die Charlotte sich das an? Was reißt sie sich rum mit den Kerlen? Warum kommt sie nicht zu uns? – Weiß keiner. Und deshalb ist Frau Schwarzer am Ende ganz enttäuschte Oma, ganz strenges Über-Ich: Du hast keine Lösung, du hast das Problem. – Was für ein Problem?  Feuchtgebiete: 1, 3 Millionen verkaufte Auflage. Schoßgebete: Erstauflage 500.000, die höchste Startauflage, die ein deutscher Autor je hatte.

Dienstag, 16. August 2011

Trivialroman

Wenn das Leben abläuft wie die Handlung eines Romans, in dem alles, was geschieht, auf einander verweist, so dass es scheint, es habe etwas zu bedeuten, aber es bedeutet nur, dass alles auf einander verweist. Und wäre es nicht mein  Leben, wäre es tatsächlich ein Roman, würde ich das Buch nach zwei Seiten zuklappen und mir überlegen, ob ich nicht lieber noch mal Anna Karenina oder Krieg und Frieden lesen soll. So aber hat Colette am Sonntag, als wir über deutsche Frauen und das Kämpferische sprachen, das deutsche Frauen haben, eine Bemerkung gemacht über deutschen Feminismus. Historischen deutschen Feminismus, von dem sie sagte, dass es schade sei, dass er schließlich von lesbischen Frauen übernommen worden ist – übernommen im Sinne von vereinnahmt, gekapert – , so dass dieser Feminismus  für nicht-lesbische Frauen wie Colette die Lebensnähe verloren habe. – Auf dem Nachhauseweg habe ich mir dann eine Formulierung ausgedacht, mit der ich das umschreiben könnte, wenn ich Colettes Bemerkung wiedergebe. Die Formulierung war: die Lesben-Vereinsheim-Mentalität des historischen deutschen Feminismus. Gut, dass ich im Posting die Bemerkung Colettes dann nicht unterbringen konnte und so davor bewahrt worden bin, mit dieser gedrechselten Formulierung ein Statement abzugeben, das mir nicht zusteht, weil ich weder zu Lesben noch zu Feminismus etwas zu sagen habe. Das Thema geht mich an, ich kann mich dafür interessieren, ich kann auch Ansichten darüber haben, aber die behalte ich besser für mich. Ich bin ein heterosexueller Mann und ich würde gerne mit einer Frau reden, die sagt, Charlotte Roche hat für uns Frauen mit ihrem Buch Feuchtgebiete mehr getan als Alice Schwarzer mit allen Jahrgängen der Zeitschrift Emma zusammen. Das kann ich mir wünschen. Und wenn das passiert, kann ich über diese Frau schreiben, und wie gerne würde ich das tun, weil es über diese erstaunliche Frau, eine deutsche Frau übrigens, noch so viel anderes zu erzählen gäbe. Aber so ist der Roman nicht, als der mir mein Leben manchmal erscheint. Der Roman ist so, dass ich gestern auf Spiegel Online lese: Frau Schwarzer hat in ihrem Blog einen offenen Brief an Charlotte Roche geschrieben, in dem sie deren neues Buch Schoßgebete attackiertHäschen im Bett, Oma im Kopf. Zitat Frau Schwarzer. Zuspitzung ihrer Ansicht über die Haltung, die Frau Roche einnimmt bei der Darstellung ihrer sexuellen Handlungen und vielleicht sogar bei den sexuellen Handlungen selbst: Häschen und Oma. Und jetzt geht es los. Was weiß Frau Schwarzer als lesbische Frau von heterosexuellen Handlungen, außer dass sie sich entschieden hat, sexuellen Handlungen mit Frauen den Vorzug zu geben? Deswegen kann sie trotzdem Ansichten über heterosexuelle Handlungen haben, sie kann sich für sie interessieren, sie gehen sie auch etwas an, insofern sie selbst eine Frau ist und an heterosexuellen Handlungen Frauen beteiligt sind. Aber sie teilt nicht deren Erfahrungen, sie kennt sie nur vom Hörensagen und deshalb schreibt sie, wenn sie über Sex schreibt, über Sex mit Frauen. Aber das tut sie nicht. Sie hat sich nie geoutet. Sie soll im Gegenteil lange Zeit ihre Beziehungen zu Frauen vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten haben, zumindest bestrebt gewesen sein, sie nicht an die große Glocke zu hängen. Das weiß ich aus einem FAZ-Artikel, den ich vor Jahren gelesen habe. Vor wie vielen Jahren? Ich suche den Artikel im Archiv der FAZ-Website und stelle fest, es war erst letztes Jahr. Aufhänger des Artikels ist die Fehde zwischen Frau Schwarzer und Kristina Schröder (Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) um ein Interview, in dem die CDU-Politikerin feststellt, dass die klassische heterosexuelle Handlung (Penetration) schon alleine deshalb nicht so ein Gräuel sein könne, wie Frau Schwarzer es in ihrem Hauptbuch suggeriert, weil sie der Fortpflanzung dient. Der FAZ-Artikel verfolgt eine Absicht: Er will Frau Schwarzer zeigen als Macker-Persönlichkeit und belegt das mit Begebenheiten, die die FAZ-Autorin nur vom Hörensagen kennt. Bitte lesen! Es ist amüsant. Aber es ist Klatsch! Und ich habe immer noch nicht das Posting von Frau Schwarzer über Charlotte Roches neues Buch gelesen. Ich weiß, wenn ich es lese, werde ich auch darüber schreiben, und ich will nicht über Frau Schwarzer schreiben. Doch nun geht mir das nicht mehr aus dem Kopf mit der mutmaßlichen Mackerhaftigkeit der Frau Schwarzer und ich würde gerne wissen, ob sie die auch beweist gegenüber Frau Roche. Und will ich nicht deutsche Frauen zu Wort kommen lassen? Und ist Mackerhaftigkeit nicht eine patriarchalische Haltung? Und die Frau, die sagt, dass Feuchtgebiete mehr für die Sache der Frauen getan hat als alle Jahrgänge der Emma zusammen, die treffe ich heute nicht, die treffe ich vielleicht nie, weil es sie vielleicht gar nicht gibt, und wenn es sie gibt, dann behält sie diesen Satz lieber für sich, weil die deutsche Kultur ist eine maskuline Kultur, da muss eine Frau aufpassen, was sie sagt.

Was es gibt, ist die deutsche Frau Schwarzer und die deutsch-englische Frau Roche, deren Buch und das Posting darüber. Das Posting lese ich jetzt und verstehe erst gar nicht, worauf Frau Schwarzer hinaus will. Nach längerem Nachdenken dann doch. Aber da ist es schon zu spät, um heute darüber zu schreiben. Die Zeit reicht gerade noch dafür, von dem Roman zu erzählen, der mein Leben manchmal ist. Trivialroman. Und jetzt hoffe ich, dass es heute noch oder morgen in letzter Minute zu einer überraschenden Wendung kommt in dem Roman. Wenn nicht, gibt es morgen etwas über Frau Schwarzers offenen Brief an Frau Roche.

Montag, 15. August 2011

Totalitär

Die großen Jungs übernehmen. Frank Schirrmacher in der FAZ, indem er die Überschrift eines Daily Telegraph-Artikels des Thatcher-Biografen Charles Moore ins Deutsche übersetzt: "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat". Und in Der Spiegel Thomas Huetlin mit seiner lebensnahen Analyse des Konsumverhaltens in England. Schlussverkauf in der HölleSo gingen sie trotzdem shoppen wie die Beckhams. Allerdings mit einem Flammenwerfer in der Hand statt der schwarzen Karte von American Express.  – Feuilleton. Aber glaubt nicht, dass das unwichtig wäre. –  Frühe Nuller-Jahre. Er über Marx promoviert und Aristoteliker, sie die große Welt von Kunst, Film und Mode bei einer kleinen, aber wichtigen linken Zeitung. Ich, der ewige Adorno-Leser: Verblendungszusammenhang, Neoliberalismus die letzte Ideologie, Totalitarismus des Marktdenkens. Wird ebenso zusammenbrechen wie der Ostblock, aber das Ende wird grausamer sein. Die beiden werden sich daran nicht mehr erinnern, denn jetzt sehen sie es bestimmt genauso wie es in der FAZ steht und im Spiegel, und deshalb ist es auch so wichtig, dass es da steht, damit alle das jetzt genauso sehen und sagen können. Damals hat er nur mit leiser Stimme, im Ton von Bestürzung zu mir gesagt: Das ist naiv, und dann hat er mit ihr bedauernde Blicke gewechselt, weil sie sich getäuscht hatten über das intellektuelle Format ihres Gesprächspartners. Von mir. Das war der Triumph der Ideologie, dass sie eine Welt von Tatsachen geschaffen hatte, über die seriöserweise ebenso wenig diskutiert werden konnte wie über das Wetter. – Geständnis: Ich habe hinterher weniger an den beiden als an mir gezweifelt. Ich habe mein Denken nach Irrtümern abgesucht und nach veralteten Denkmustern. Dass ich keine finden konnte, habe ich mir mit Defiziten meiner Intelligenz erklärt. Das war das Totalitäre des Neoliberalismus. Der Kreml in den Köpfen.

Übel   
Sie kommt mir entgegen mit schmerzverzerrtem Lächeln. Das Lächeln ist wegen unserer langen Bekanntschaft. Das Schmerzverzerrte ist wegen dem, was ich über ihren Mann geschrieben habe. Ich sage, Hey! und ihren Namen. Wir gehen aneinander vorbei. Hätte ich stehen bleiben sollen? Nein, ich hatte schon das richtige Gespür, dass sie das nicht wollte.  Weil sie nicht wollte, dass ich über den Dialog schreibe, den wir gehabt hätten? – Ach, wir hatten schon so viele Dialoge, die ich unerwähnt gelassen habe. – Oder weil sie es mir übel nimmt, was ich über ihren Mann geschrieben habe? – So übel war das doch gar nicht. Offenbar wird es mir übel genommen, dass ich überhaupt über ihn geschrieben habe. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich hatte angenommen, er sieht es wie ich: Gut oder schlecht, Hauptsache, sie reden über dich. Reden sie gut, machst du irgendetwas falsch. Reden sie schlecht, muss es etwas geben, das du richtig machst. – Bitte beachten: Ich verlinke hier nicht zu dem, was ich über ihn geschrieben habe. So wie ich über den Dialog mit ihr Stillschweigen bewahrt hätte, wenn er zustande gekommen wäre. – Hätte ich wirklich Stillschweigen bewahrt? – Wäre auf den Dialog angekommen. – Schon besser, dass sie weitergegangen ist.

Falsch
Er freut sich auch nicht, dass er mich sieht. Und das verstehe ich sofort. Da habe ich einen Fehler gemacht, indem ich einer anderen Person erzählt habe, was er über die andere Person gesagt hat. Das habe ich getan, um die andere Person zum Reden zu bringen, und während ich es gemacht habe, hatte ich schon kein gutes Gefühl dabei und habe mich hinterher beruhigt damit, dass die beiden sowieso nicht mehr miteinander reden. Deshalb würde ich schon damit durchkommen dieses eine Mal, habe ich gedacht, und dass ich das nie wieder machen werde, weitertragen, was einer über einen anderen gesagt hat, auch wenn es für mein Gefühl harmlos ist wie in diesem Fall. Aber da die andere Person empfindlich reagiert hat und ihn zur Rede gestellt auf eine Art, die ich nicht näher bezeichne, um nicht alles noch schlimmer zu machen, deshalb war es nicht mehr harmlos. Das habe ich eingesehen und ihn um Entschuldigung gebeten. – Das kommt von dem Gefasele in deinem Blog, sagte er, dann schon einlenkend. – Gefasele? Okay, du kannst das sagen, du hast was bei mir gut, habe ich geantwortet. Er hat sogar noch viel mehr gut wegen der Verlegenheit, in die ich ihn gebracht habe. Der Vorwurf des Gefaseles hat mir dann keine Ruhe gelassen. Ja, es ist schon manchmal ein Gefasele hier. Manchmal aus Schwäche, manchmal, weil ich das Gefasele brauche als Anlauf. Rate, rate! Was ist heute der Grund?

Patriarchalisch
Sie, eine andere Sie, wäre jetzt eigentlich die nächste Gesprächspartnerin zum Thema deutsche Frauen und die patriarchalische oder, wie Mini Kapur es formulierte, maskuline Kultur Deutschlands. Nach der Frau aus Indien und der Frau aus Frankreich als nächste eine nordamerikanische Frau. Doch daraus wird nichts, da brauche ich gar nicht zu fragen - da kann ich gar nicht fragen. Wegen ihres deutschen Patriarchen. Deshalb überspringe ich das und mache so bald wie möglich gut, was ich gestern angerichtet habe mit meinem Gefasele über deutsche Frauen, indem ich nicht mehr über sie, sondern mit ihnen reden werde. Über das deutsche Patriarchat.