Frage an den Kartenabreißer: Hat der Hauptfilm schon angefangen? – Nein. – Odeon. 18.14 Uhr. Vier Leute vor mir an der Kasse. Hinter der Kasse die mir vertraute Frau, die so hässlich ist, dass ich erschrocken bin, als ich sie vor vielen Jahren zum ersten Mal gesehen habe. Am Tag der Trauerfeier für Princess Diana hatte sie ein kleines Bild von ihr mit einer Kerze daneben an der Kasse aufgestellt, und weil an dem Tag Mutter Theresa gestorben war, daneben noch ein Bildchen von Mutter Theresa, auch mit einer Kerze. Jetzt hat sie gerade eine Diskussion mit den Leuten, die zu dritt gekommen sind. Was haben die zu diskutieren? Wohl kaum über den Eintrittspreis. Montag Kinotag: 5 Euro 50. Vor mir eine Frau Mitte, Ende 40, mit kurzen gelockten blonden Haaren und markanten symmetrischen Gesichtszügen. Knielanger beiger Trenchcoat. Jeans. Sling-Sandaletten. Jetzt ist sie dran. Sie fragt, ob eine Karte für sie hinterlegt worden ist. – Nein, sagt die hässliche Frau und ich denke, dass sie das nur fragte, weil sie bemerkt hat, wie ich sie beobachtet habe. Aus Langeweile während des Wartens. Das kann sie nicht wissen. Sie will verhindern, dass ich ihr folge und mich neben sie setze. Es überrascht sie nicht, dass keine Karte für sie hinterlegt wurde. Sie kauft sich eine und dazu eine kleine Flasche Beck´s. Leute, die im Kino Bier trinken sind mir immer fremd gewesen. Dass die Frau im Trenchcoat dazu gehört, überrascht mich. Ich denke an Charlotte Roche, von der ich gelesen habe, dass sie ein Alkoholproblem hatte. Das hat mich auch überrascht. Ich hatte gedacht, dass Charlotte Roche andere Mittel hat, wenn sie es sich geben will. Vielleicht ist das mit dem Alkohol aber auch nur eine dem Markt angepasste Überformung eines anderes Drogenthemas, jetzt von ihr preisgegeben, weil bald ihr zweites Buch erscheint: Schoßgebete. Die Frau im Trenchcoat hat mit einem 50-Euro-Schein bezahlt. Die Qualität ihres Mantels und ihrer Sandaletten lassen auf ein höheres Einkommen schließen. Nachdem ich von der hässlichen Frau meine Karte bekommen habe mit einem Lächeln, mit dem sie mein Lächeln erwiderte, folge ich der Frau im Trenchcoat, so wie sie sich das vorgestellt hat. Hoffentlich setzt sie sich nicht in eine der vorderen Reihen. Denn da will ich hin. Sie entscheidet sich für eine Reihe in der Mitte. Keine zwei Minuten, nachdem ich mich hingesetzt habe, schließt sich der Vorhang, Ende Vorprogramm, und öffnet sich gleich wieder, Beginn Hauptfilm. Die Frau und ich wir haben das gleiche gute Timing.
Megan! Megan! Megan! Ein kleines Mädchen ruft nach seinem Hund. Früher Morgen. Sein Vater wacht auf und hilft ihm bei der Suche. Das Mädchen ist Frankie. Der liebevolle Vater ist Dean. Die Tür des Gatters um die Hundehütte steht offen. Der Vater beruhigt das Kind. Der Hund wird schon wieder zurückkommen. Jeder im Kino weiß, dass das Mädchen seinen Hund nicht wiedersehen wird. Dean und Frankie wecken die Mutter. Die Mutter ist Cindy. Sie hat kein Verständnis für die Faxen, die Dean mit Frankie beim Frühstück macht. Später wird sie den toten Hund am Straßenrand finden. Sie wird weinen, wenn sie Dean davon erzählt. Sie hat die Tür zum Gatter um die Hundehütte zu schließen vergessen, hält Dean ihr vor. Die Eltern verschweigen Frankie, dass ihr Hund tot ist. Sie bringen sie zum Vater Cindys. Danach sitzt Dean am Tisch und schluchzt. Cindy tröstet ihn, indem sie ihm zärtlich den Nacken knetet. Es ist der Vorabend des 4. Juli, des amerikanischen Nationalfeiertags.
Dean sagt am Anfang der Rückblenden, als er Cindy noch nicht kennt: Ich glaube, Männer sind romantischer als Frauen. Wenn wir heiraten, tun wir das, weil wir uns die ganze Zeit dagegen wehren, bis wir ein Mädchen treffen und denken: 'Ich wäre saublöd, wenn ich dieses Mädchen nicht heirate', weil sie so toll ist. Aber Frauen scheinen irgendwann an einen Punkt zu kommen, wo sie sich entscheiden: 'Oh, der hat 'nen guten Job.' Die verbringen ihr ganzes Leben damit, nach Prince Charming zu suchen, und heiraten dann den Typen, der einen guten Job hat und bei ihnen bleibt. Sätze aus einem gutgeschriebenen Drehbuch. – Cindy sagt, bevor sie Dean kennenlernt, auch so einen Drehbuchsatz. Nur einen: Wie soll man seinen Gefühlen trauen, wenn man weiß, dass sie so schnell vergehen können?
Im Vorraum sehe ich die Frau mit den Sling-Sandaletten wieder, zuerst die Füße in den Sandaletten, dann erst bemerke ich, dass sie es ist, die Frau mit dem Trenchcoat und dem Beck´s Bier. Auf dem Weg zur Toilette. Sie ist auch bis zum Ende des Abspanns sitzen geblieben. Ich schaue mich um. Niemand im Vorraum des Kinos sieht so aus, als würde er zu ihr gehören und auf sie warten. Wie ich es mir gedacht habe: Sie hat nur nach der zurückgelegten Karte gefragt, um mich auf Distanz zu halten. Trickreich. So wird sie nie erfahren, dass ich gar nichts von ihr wollte.
(*) Ein Kinderschänder geht mit einem kleinen Jungen in einen dunklen Wald. Der Junge sagt, ich fürchte mich. Darauf der Kinderschänder: Was meinst du, wie ich mich erst fürchten werde, wenn ich nachher den ganzen Weg alleine zurück gehen muss.
(**) Die Sexszenen in Blue Valentine: der mechanische Sex mit dem Ex-Freund, bei dem Frankie gezeugt wird, der gute Sex mit Dean, als sie sich verlieben, und der Sex, als es vorbei ist, das ist so, wie ich mir immer gedacht habe, dass Sexszenen sein sollten in einem Kinofilm: dass mit der sexuellen Handlung die Geschichte weiter erzählt wird. Dialog ohne Worte.
Blue Valentine, USA 2010. Regie: Derek Cianfrance; Buch: Cami Delavigne, Derek Cianfrance, Joey Curtis; Produktion: Jamie Patricof, Lynette Howell, Alex Orlovsky; Darsteller: Ryan Gosling, Michelle Williams, Faith Wladyka, Mike Vogel; 112 Min.
Trailer Blue Valentine
Fotos: © Senator Film Verleih
Blue Valentine, USA 2010. Regie: Derek Cianfrance; Buch: Cami Delavigne, Derek Cianfrance, Joey Curtis; Produktion: Jamie Patricof, Lynette Howell, Alex Orlovsky; Darsteller: Ryan Gosling, Michelle Williams, Faith Wladyka, Mike Vogel; 112 Min.
Trailer Blue Valentine
Fotos: © Senator Film Verleih