Mittwoch, 3. August 2011

Puppenkleider

Heute war die Beerdigung. Wäre der Ort, an dem sie  stattgefunden hat, nicht so weit entfernt, dann wäre ich hingegangen. Ihretwegen. Eine der besten Freundinnen. Vor zwei Wochen habe ich ihr die zwischen uns übliche muntere Mail geschrieben. Am nächsten Tag Antwort: Mein Vater ist tot. Mein Herz ist schwer. S. - Was schreibe ich ihr zurück? – Weiß, was das bedeutet. Fühle mit Dir. Was ist passiert? W.  – Weiß, was das bedeutet, heißt: ich weiß, was das für ein Gefühl ist. Habe es erlebt, als mein Vater gestorben ist vor neun Jahren. Fühle mit Dir, schreibe ich, weil ich wegen der Klischeehaftigkeit des Satzes nicht schreiben will, ich bin in Gedanken bei Dir, obwohl es dann so ist den ganzen Tag und die folgenden Tage, dass ich immer wieder an sie denken muss und weiß, wie es ihr geht. Sie, sieben Jahre jünger als ich es war damals, als mein Vater gestorben ist. Ihr Vater fünfzehn Jahre jünger als meiner war bei seinem Tod. Ihr Vater 67.

Er ist nicht alt geworden, sagt sie, als ich sie eine Woche später anrufe. Sie in Hannover, wartet auf ihren Rückflug nach München. Erzählt, was passiert ist. Er hat noch in seinem Beruf gearbeitet. Wissenschaftler. In seinem Labor zusammengebrochen. – Also in seinen Stiefeln gestorben, sage ich. Sonst versteht sie meine Kalauer, jetzt fragt sie: Wie? –  Sie ist, wie ich sie noch nicht erlebt habe. Ich spreche über das Gefühl, das ich hatte nach dem Tod meines Vaters. Ein Gefühl, das mich berührt hat an einer Stelle, von der ich bis dahin nicht wusste, dass es sie gibt. Stimmt, sagt sie. So erlebt sie das auch. Und es fällt ihr auf, dass die Leute, die sie jetzt anrufen wegen des Todes ihres Vaters, alles Leute sind, die das auch schon erlebt haben, Vater oder Mutter zu verlieren. Und dann weint sie. Ich will ihr etwas Tröstendes sagen. Es fällt mir nichts ein, das nicht kitschig oder dumm wäre. Ich sage nichts, sie hört auf zu weinen, sie redet, ich stelle ihr Fragen. ich höre ihr zu, bis ihr Boarding-Aufruf kommt und sie ihr Telefon abschalten muss.

Es tut mir leid, dass ich unfähig war, ihr etwas zu sagen, das ihr, und sei es nur für einen Moment, gut getan hätte. Liegt es an meinem nüchternen Verhältnis zum Tod, das sie auch hat und ihr Vater erst recht hatte? Oder kann es gar keinen Trost geben bei einem solchen Verlust, wenn man ihn gerade erlitten hat? Ist es deshalb besser zu schweigen, denn das Beste, was man tun kann, ist zuhören? – Ich habe sie gefragt, ob sie bereits eine Todesanzeige aufgegeben hat gemeinsam mit ihrem Bruder. Damit kennst du dich ja aus, habe ich gesagt. Jahrelang haben wir morgens in der FAZ zusammen die Todesanzeigen gelesen und analysiert und uns das Maul verrissen. Nein, sie haben noch keine Todesanzeige für ihn aufgegeben. Aber es hat schon drei große Anzeigen gegeben. Von der Institution, an der ihr Vater geforscht hat, von Kollegen, von Mitarbeitern. Das erzählt sie stolz und – zu meiner Verwunderung – so, als würde ihr toter Vater noch etwas haben von der Ehre, die ihm dadurch zuteil wird. Ich gehe darüber hinweg. Später, als ich so unzufrieden mit mir bin, fällt  mir das wieder ein, und auf einmal weiß ich, was ich hätte tun können, was ich hätte tun sollen: mit ihr über ihren Vater reden, mich mit ihr an ihn erinnern – mit ihr zusammen tun, was sie selbst unentwegt tut: an den Toten denken.

Es ist klar, warum ich es nicht getan habe. Und sie wusste es und hat es deshalb auch nicht erwartet. Weil ich keine guten Erinnerungen an ihn habe. Wir sind uns nur wenige Male begegnet. Er hat sich Mühe gegeben. Ich habe mir Mühe gegeben. Es hat nichts genutzt. Es war ein einziger Krampf. Einmal war es ein solcher Krampf, dass es schon weh getan hat. Mir so weh getan hat, dass ich es ihm nicht verziehen habe. Er hat mir nicht gefallen. Und ich ihm auch nicht. Es ist immer das Gleiche, hat sie mal gesagt: Meine Männer verstehen sich entweder mit meiner Mutter oder mit meinem Vater. Nie mit beiden. Ich habe mich mit ihrer Mutter verstanden. Mit ihm nicht gekonnt, aber trotzdem Achtung vor ihm gehabt: Er war für mich der Mann, der sie und ihren Bruder alleine aufgezogen hat. Der mit seiner Tochter, als sie 12 war, an den Wochenenden zu Fechtturnieren gefahren ist, obwohl er viel lieber in seinem Labor am Elektronenmikroskop gesessen hätte, und als sie 4 war, hat er ihr Puppenkleider genäht. Auf diese Vorstellung bin ich später immer wieder zurück gekommen, wie dieser Mann, der eigentlich nur für seinen Beruf lebte, Puppenkleider für seine Tochter genäht hat, und dass er das überhaupt konnte: Molekularbiologe.  

Das hätte ich sagen können, als sie vergangene Woche untröstlich war wegen des Todes ihres Vaters: dass er für mich immer der Mann sein wird, der für ein kleines Mädchen Puppenkleider genäht hat. Es ist mir nicht eingefallen. Erst jetzt.