Mittwoch, 24. August 2011

Klick

Dr. Bürger beginnt mit einem Satz, dem unmöglich widersprochen werden kann: Mir ist meine Gesundheit wichtig, sagt er. Damit meint er insbesondere seine körperliche Unversehrtheit. Die ist ihm so wichtig, weil er jemand ist, der sich viel bewegt. Er macht einen Sport in einem Sportverein. Er fährt Fahrrad. Er ist Inline Skater; jedes Jahr nimmt er an dem Inline-Skating-Marathon teil, der vor dem Berlin-Marathon stattfindet. Sieht Dr. Bürger einen Fahrradfahrer über einen Bürgersteig brettern, betrachtet er ihn als eine mögliche Bedrohung seiner Bewegungsfähigkeit, welche die Voraussetzung dafür ist, das Leben zu führen, für das er sich entschieden hat, weil es das beste für ihn ist. Zweimal ist er nachts schon von hinten von Fahrradfahrern, die ohne Licht unterwegs waren, angefahren worden, erzählt er. Ich weiß nicht, ob ich ihm das glauben soll, da ich mir keine nächtliche Szene vorstellen kann, in der ich auf einem Bürgersteig von hinten von einem Fahrradfahrer angefahren werde. Andererseits kann ich mir auch nicht vorstellen, dass Dr. Bürger die Unwahrheit sagt. Denn Dr. Bürger ist nichts so verhasst wie Verlogenheit. Begegnet ihm Verlogenheit, macht er keine Gefangenen, dann lässt er nicht locker, bis der Lügner entlarvt ist. Von mir weiß ich, dass dieses kämpferische Verhältnis zur Unwahrheit daher kommt, dass ich von anderen erwarte, was ich auch von mir selbst verlange: wahrhaftig zu sein selbst dann noch, wenn es weh tut. Zugleich bin ich durch nichts so leicht zu entwaffnen wie durch Aufrichtigkeit. So ist es auch bei Dr. Bürger. Überrascht ihn jemand mit seiner Aufrichtigkeit, dann kann er auch einmal über eine Verfehlung hinwegsehen. Ja, Dr. Bürger kann über Verfehlungen, auch über Verfehlungen von Polizisten, hinwegsehen.

In einem Umriss von Berlin, den er mit Kuli skizziert hat, markiert Dr. Bürger drei Punkte und verbindet sie mit einer Linie. Der erste Punkt bezeichnet den U-Bahnhof Rathaus Steglitz, der zweite seine Wohnung, der dritte die Hochschule, an der er lehrt. Auf dieser Linie bewege ich mich, sagt er. Punkt unten: U-Bahnhof Rathaus Steglitz, Einkaufen in der Schlossstraße; mittlerer Punkt: seine Wohnung; oberer Punkt: sein Arbeitsplatz, die Hochschule, an der er lehrt. Irgendwo dazwischen das Bayerische Viertel mit dem Xxxxxx, wo er vormittags Zeitung liest und auch schon mal abends hinkommt, um einen Wein zu trinken. Nur hundert Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite das weit und breit bestsortierte Fachgeschäft für Büro- und Papierbedarf: Xxxxxxx; ein Schauplatz eines von ihm beobachteten und angezeigten Dienstvergehens. Am Bayerischen Platz die Wurstbude, wo es eine ausgezeichnete Currywurst gibt, wie er sagt; Schauplatz eines weiteren Dienstvergehens - mit einem überraschenden Ausgang für den betroffenen Polizisten. Nicht weit davon entfernt das Amtsgericht auf der Ecke Grunewald-/Martin-Luther-Straße; Schauplatz eines weiteren - eklatanten - Dienstvergehens, dessen Zeuge er wurde. Was er mir demonstrieren will mit dieser Skizze: Er patrouilliert nicht, um Polizisten bei Fehlverhalten zu ertappen. Er ist einfach nur in seinem Leben unterwegs, auf dieser Linie zwischen den drei Punkten, meist mit der U-Bahn, manchmal mit dem Fahrrad, manchmal mit seinem Auto. Fast alle von ihm beobachteten Fälle polizeilichen Fehlverhaltens haben sich auf dieser Linie oder in ihrem Umkreis ereignet. Und jetzt wird es ein bisschen unübersichtlich: Auf dieser Linie haben sich auch die Fälle von Taschendiebstahl ereignet, mit denen er befasst war.

Unübersichtlich wird es, weil ich ihm da nicht so gut zugehört habe. Und ich habe ihm nicht so gut zugehört, als er mir das mit den Taschendiebstählen erzählt hat, weil es mir nicht in den Kram passte. Weil er da nicht mehr der Dr. Bürger ist, den ich in ihm sehen kann, wenn ich es gut mit ihm meine. Weil das mit seiner Geschichte der Dienstaufsichtsbeschwerden und mit seiner Rolle als oberster Beschwerdeführer nichts zu tun hat. Weil es ihn zu beschädigen scheint in dieser Rolle (allerdings könnte es auch sein, dass es sie erklärt). Wir erleben ihn hier als einen Hilfssheriff, der sich den Stern selbst an die Brust geheftet hat. So kommt es mir jedenfalls vor. Die Fakten im Schnelldurchlauf: 1993 sieht Dr. Bürger auf RTL einen Bericht über Taschendieb-Banden aus Südosteuropa. Da macht es Klick bei ihm. Seine Aufmerksamkeit ist ab jetzt geschärft. Auf seinen Fahrten mit der U-Bahn schaut er nun ganz genau hin und bekommt schnell ein Auge für das typische Verhalten der Diebe. Eine alte Dame, an die sich zwei Diebe – im fast leeren U-Bahnwagen – dicht herangedrängt haben, bewahrt er davor, ausgeraubt zu werden. Er kooperiert mit der Polizei. Gibt Hinweise. Bekommt Einblick in Täterdateien. Nimmt sogar einmal an einem Einsatz teil, bei dem zwei Taschendiebe gestellt werden sollen, die er identifiziert hat. Doch die beiden Diebe können entkommen. Als die Polizei zugreifen will, fliehen sie in entgegengesetzte Richtungen. Und die Polizisten machen, nach Einschätzung von Dr. Bürger, den Fehler, sie beide zu verfolgen, statt ihre Kräfte auf einen der Flüchtenden zu konzentrieren. – Vorschlag: Professoren in die Strafverfolgung. Ich verkneife mir den Kalauer und Dr. Bürger greift in die linke Innentasche seines Sakkos. Er zeigt mir einen Gegenstand, den ich auch gerne hätte. Einen Produkt-Klassiker: Panasonic SV-AV100. Als sie auf den Markt kam vor etwa zehn Jahren, die wahrscheinlich kompakteste Videokamera der Welt. Passt in eine Hand. Sucher herausklappbar. Speichermedium: eine herausnehmbare Chip-Karte. Mit dieser Kamera hat Dr. Bürger seine Beobachtungen von Taschendieben in U-Bahnwagen und –Bahnhöfen dokumentiert und auf der herausnehmbaren Chip-Karte konnte er das Beweismaterial an die Polizei weitergeben. Die war erst dankbar für diese Unterstützung ihrer Arbeit und hat ihm dann von höherer Dienststelle eines Tages einen Brief geschrieben. Darin stand, dass er mit seinen Videoaufnahmen das Recht am eigenen Bild der von ihm gefilmten Personen verletzt. Das hat Dr. Bürger nicht verstanden, dass das Recht am eigenen Bild auch für mutmaßliche Straftäter gelten soll. Das versteht er bis heute nicht. – Wir haben dieses Thema in unserem Gespräch nicht weiter verfolgt. Wenn ich es richtig interpretiere, endete mit dem Brief die Zusammenarbeit von Dr. Bürger mit der Berliner Polizei. Frage: Nach dem Klick nun der Knacks? Dr. Bürger enttäuscht, verbittert. Er richtet seine geschärfte Aufmerksamkeit fortan nicht mehr auf die Taschendiebe, er richtet sie stattdessen auf die Polizei: auf ihr Versagen und ihre Verfehlungen. – Versuch, mir Übersicht zu verschaffen. Psychologisierend. Besser, Dr. Bürger danach fragen, wie das damals war. Doch zuvor noch zwei Dienstaufsichtsbeschwerden und zwei Fälle, in denen Dr. Bürger auf eine Beschwerde verzichtet hat. Warum? – Fortsetzung folgt.  
Xxxxxx = Namen auf Wunsch von Dr. Bürger gestrichen.