Mittwoch, 31. August 2011

Schikane

Damals gab es noch den kleinen Don Antonio, den Billig-Italiener in der Akazienstraße. Und Polizisten trugen noch die grünen Uniformen mit einem Braunanteil (Hemd und Hosen), der ausgesehen hat – Karl Lagerfeld würde sagen: wie Durchfall von einem großen Hund. Da ich nichts mit der Polizei zu tun hatte und die Polizei nichts mit mir, hatte ich noch nie eine Polizistin in der Realität gesehen. In dieser scheußlichen Uniform. Es kam öfter vor, dass am Abend Polizisten zu Don Antonio kamen, um Pizza zum Mitnehmen zu kaufen, die sie zuvor telefonisch bestellt hatten. Meist zwei Pizzen. Ein Polizist hat sie abgeholt, während sein Kollege draußen, in der zweiten Reihe parkend, im Streifenwagen wartete. Eines Abends kamen zwei Polizisten herein zum Pizza-Abholen, ein junger Mann und eine junge Frau. Da sie vorher nicht angerufen hatten, mussten sie ein paar Minuten warten. Die junge Frau keine Schönheit, aber doch so hübsch, dass es der kackbraun-grünen Uniform nicht gelungen ist, sie zu entstellen. Die beiden in ihrem Umgang so, dass sie auch Studenten hätten sein können, die sich zusammen auf eine Prüfung vorbereiten und gerade eine Pause machen. Kollegen. Ein Team. Inzwischen weiß ich, nur ein Team für eine Nacht. Bei der nächsten Schicht würden sie mit einem anderen Kollegen, einer anderen Kollegin im Streifenwagen unterwegs sein. Das ist die Regelung, um zu verhindern, dass aus Kollegen Komplizen werden. Nur blöd, wenn es einmal brenzlig wird, denn dann ist nichts mit blind sich auf den anderen verlassen können. Andererseits wird es so nie langweilig, gibt es immer neuen Gesprächsstoff für die Phasen, in denen die Polizeiarbeit Warten darauf ist, dass etwas passiert oder bis beim Billig-Italiener die Pizza fertig ist. Die junge Polizistin und der junge Polizist hatten sich viel zu erzählen und während ich ihnen dabei zuschaute, habe ich gedacht: So sehen also jetzt die Bullen aus. Mit solchen Bullen würde ich gerne mal zu tun haben. Alleine schon, um zu erleben, wie die sind - ob das überhaupt noch Bullen sind oder eine neue, ganz andere Art von Polizisten. Das war der Moment, in dem ich angefangen habe, mich für Polizisten zu interessieren. Und das hätte ich gestern schon erzählt, wenn ich nicht unterbrochen worden wäre vom Anruf Dr. Bürgers. Bei mir hat es dann mehr als zehn Jahre gedauert, bis ich solche Polizisten kennengelernt habe. Wäre Dr. Bürger damals auch im Don Antonio gesessen, hätte er noch am gleichen Abend ihre Bekanntschaft gemacht. Er wäre kurz vor die Tür getreten, um festzustellen, ob der Streifenwagen verkehrsbehindernd abgestellt ist (wie auch sonst in der ständig zugeparkten Akazienstraße), und dann wäre er zu den beiden hingegangen und hätte sie nach ihren Dienstnummern gefragt. Warum, hätten die beiden wahrscheinlich wissen wollen. Darauf hätte er sie belehrt, dass er das nicht zu begründen braucht. Das hat er schriftlich von der Zentralen Beschwerdestelle der Berliner Polizei, dass ein Polizist auf Verlangen seine Dienstnummer nennen muss. Und damit wäre er schon mit der jungen Frau und dem jungen Mann im Gespräch gewesen und hätte sie kennengelernt. Je nachdem hätte das Gespräch zu einer Dienstaufsichtsbeschwerde geführt oder Dr. Bürger hätte ein Einsehen gehabt, vielleicht weil ein lautes Knurren aus dem Magen der Polizistin oder des Polizisten ihn daran erinnert hätte, dass die beiden nicht nur Polizisten, sondern auch Menschen sind, oder sie hätten ihm geduldig erklärt, dass ein nicht geringer Teil der Polizeiarbeit im Sich-Vorbereiten und Warten darauf besteht, dass etwas passiert – dass Ernährung zur Vorbereitung zählt und dass es beim Warten darauf, dass etwas passiert, gleichgültig ist, wo sie warten; dass sie das also ebenso gut bei Don Antonio tun können, während sie sich eine Pizza holen. Hätte er das nicht eingesehen, hätte mich spätestens da die Wut gepackt und ich hätte dem bürgerlichen Herrn wegen seines schikanösen Verhaltens gegenüber den beiden jungen Menschen eine so hässliche Szene gemacht, dass schnell ein Fall eingetreten wäre, in dem die beiden Polizisten hätten einschreiten müssen, und schon hätte sich gezeigt, dass sie genau am richtigen Ort darauf gewartet hatten, dass etwas passiert, dass also von einem Dienstvergehen wegen Pizzaholens im Dienst und verkehrsbehindernden Parkens keine Rede mehr sein konnte. Kann aber auch sein, dass ich meine Wut für mich behalten und nur ein paar Notizen auf eine Serviette gekritzelt hätte. Denn ich war damals noch Drehbuchautor und habe das, was um mich herum geschah, ausschließlich betrachtet im Hinblick auf seine  Verwertbarkeit in TV-gerechten Geschichten. Sogar mit großer Wahrscheinlichkeit hätte ich mir nur ein paar Notizen gemacht. Und dass ich mir es jetzt anders ausgemalt habe, liegt nur daran, dass ich mich abreagieren wollte mit dieser Phantasie, weil es mich immer noch wurmt, dass ich mich gestern der Schikane Dr. Bürgers nicht energischer widersetzt habe. Etwas anderes war es nämlich nicht als eine Schikane, dass er die Namen des Cafés und des Schreibwarenladens gestrichen haben wollte. Seine Forderung begründet, korrekt, legitim, die Forderung selbst aber unnötig, sinnlos. Und weil ich mich nicht länger herumschlagen wollte mit dieser unnötigen, sinnlosen Forderung, habe ich nachgegeben und ärgere mich jetzt noch darüber.

Als ich Dr. Bürger letzte Woche die Links zu den drei Postings über ihn gemailt habe, da habe ich ihm dazu geschrieben: Es war anstrengend mit Ihrem Material zu arbeiten. Aber ich hatte dabei stets das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Das habe ich nicht immer. – Damit wollte ich ihm keineswegs schmeicheln. So war es. Aber wie passt das jetzt zusammen: anstrengend, sinnvoll; Schikane, sinnlos? – In seinem Charakter passt es zusammen. So ist er. Alles zusammen. Und dabei nicht einmal unsympathisch. Solange man nicht von ihm schikaniert wird.