Dienstag, 23. August 2011

Beschwerdeführer

Was will er? Was will ich? – Er ist Dr. Bürger. Professor Dr. Bürger (*). Bekannt als oberster Beschwerdeführer. Schreckgespenst der Polizisten des Abschnitt 41 und der angrenzenden Abschnitte. Oder wie ein Polizist ihm mal im Vertrauen gesagt hat: Sie sind der meistgehasste Bürger bei der Berliner Polizei. Meine Frage, wie viele Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Polizisten er schon eingereicht hat, kann er nicht beantworten oder er will sie nicht beantworten. Um nicht dazustehen wie ein Freak? Monoman, besessen, fixiert darauf, Fehlverhalten von Polizisten anzuprangern? – Wenn er emeritiert sein wird, das ist nicht mehr allzu lange hin, will er ein Buch schreiben über seine Erlebnisse mit der Berliner Polizei, erzählt er und legt Wert darauf, dass er diese Erlebnisse nicht gesucht hat. Sondern? Das ist eine der Fragen, die ich noch nicht beantworten kann: Was ist das für ein Mann? Und was treibt ihn um? – Auf jeden Fall ist es keineswegs so, dass er nichts Besseres zu tun hat, als Polizisten aufzulauern, um sie bei Dienstvergehen zu beobachten. Neben seiner Lehrtätigkeit an einer Hochschule ist er seit 40 Jahren in einem Sportverein aktiv, als Trainer und als Kampfrichter. Während der Semesterferien kommt er fast täglich vormittags ins Xxxxxx im Bayerischen Viertel, um dort Zeitungen zu lesen, mehrere Berliner und überregionale Zeitungen, die dort ausliegen. Und wäre er nicht mit mir verabredet gewesen, im Xxxxxx, wäre er zu dem Prozess gegen den U-Bahn-Schläger gegangen, der heute im Landgericht begonnen hat, sagt er. Doch dann fällt ihm ein, dass das gar nicht möglich gewesen wäre, weil der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden wird wegen Minderjährigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Tat. Er erzählt von Prozessen, die er sich angeschaut hat, unter anderem vom Prozess gegen Rocky Rocchigiani; da saß hinter ihm der Clan des angeklagten Boxers und was sich da abspielte hinter ihm und vorne im Gerichtssaal, das mitzuerleben war spannend. Er empfiehlt das auch seinen Studenten, Gerichtsverhandlungen zu besuchen. Sie sollen sich nicht nur für ihr Studium interessieren, sie dürfen ihr Privatleben nicht vernachlässigen und sie sollen auch Anteil nehmen am öffentlichen Leben. Bei Gerichtsverhandlungen, da wird Recht gesprochen im Namen des Volkes. Hey! - Das sagt er öfter: Hey! Meist sagt er Hey!, wenn er erzählt von einer Entdeckung, die er gemacht hat. Beispiel: Er fährt einem Fahrradfahrer hinterher, nachdem er beobachtet hat, wie der viermal bei Rot weitergefahren ist (nicht bei eben Rot geworden, bei ROT!). Er folgt ihm über den Tempelhofer Damm, wird Zeuge, wie der Fahrradfahrer noch weitere zehn rote Ampeln ignoriert und dann, der Hammer, sagt er, dann erreicht der Fahrradfahrer sein Ziel und das ist: ein Polizeirevier. Hey! Der Mann ist Polizist, stellt sich nun heraus, und er überfährt 14 mal eine rote Ampel auf dem Weg zu seinem Dienst. Das gibt eine Anzeige, ist klar. Das sagt er auch immer wieder: Das gibt eine Anzeige. Das gibt eine Dienstaufsichtsbeschwerde, ist klar. – Er redet schnell. Er redet engagiert, aber nicht aufgeregt. Er verhaspelt sich nicht, er wiederholt sich nicht. Trotzdem habe ich nach zwei Stunden Zuhören den Eindruck, dass es immer die gleiche Geschichte ist, dass es immer das Gleiche ist, was ihm da mit Polizisten passiert, und ich kann jetzt nicht mehr. Ich sage ihm, dass ich das alles jetzt erst einmal verarbeiten muss. Das versteht er. Wir lassen das Gespräch ausklingen, ich frage ihn nach seinem Sport, er stellt mir Fragen zu meinem Blog. Doch es fällt ihm immer wieder ein Vorfall, noch ein Erlebnis mit einem Polizisten ein. Ich kann es nicht mehr hören und ich könnte denken, das ist ein deutliches Zeichen von Besessenheit, dass er nicht loskommt von dem Thema. Aber es ist nun mal auch das Thema, wegen dem wir uns getroffen haben, und so viele Gelegenheiten wird er nicht haben, sich darüber auszusprechen. Auf dem Tisch liegt meine Lesebrille, die ich aufsetze, wenn ich mir Notizen mache. Jetzt setze ich sie auf, um mir Herrn Bürger noch einmal genau anzuschauen. Es bleibt bei dem Eindruck, den ich von Anfang an hatte: Er ist ein sympathischer Mann. Er ist mir so sympathisch wie es mir die beiden Polizisten waren, die ich interviewt habe für den Blog. Ich verstehe mich mit ihm nicht so gut wie mit dem jüngeren der beiden Polizisten. Und er ist mir weniger fremd, als der ältere der beiden Polizisten es mir war. Fremd ist er mir trotzdem. Was will ich von ihm? Ich würde ihn gerne verstehen. Und wenn mir das gelingt, möchte ich versuchen, eine Kommunikation herzustellen zwischen ihm und den Polizisten, die sich von ihm verfolgt fühlen.

(*) Name wegen Anonymisierung erfunden. Siehe dazu den Anfang von Schutzmann 2.
Xxxxxx = Name auf Wunsch von Dr. Bürger gestrichen.