So groß wie ich. Hat dicke, lange schwarze Haare, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Dürfte Mitte 40 sein und kann als gutaussehend gelten. Ein Bild von einem Mann. Trägt bei Sommerwetter, wie wir es gestern hatten, ein weites weißes Muscle Shirt und eine weiße knielange Hose. Seine Haut ist dunkelbraungebrannt, seine Oberarmmuskulatur ist imponierend, aber nicht übertrieben. Er hält seine Tochter an der Hand (fünf Jahre alt, schätze ich, süßes Kind, Stolz eines Vaters). Als ich das Haus verlasse und auf den Bürgersteig trete, kommt er von links und will an mir vorbeigehen, ohne mich anzusehen. Das hat er neulich schon mal gemacht in der Back-Factory in der Hauptstraße und auch einige Wochen vorher, als er vor dem Coffeeshop saß in der Akazienstraße, ich ihn grüßen wollte und er so was von weggeguckt hat, dass ich es gelassen habe. Jetzt sage ich reflexhaft: Sag mal! Warum kennen wir uns eigentlich nicht mehr? – Überrascht bleibt er stehen. Er schaut mich an, ausdruckslos, sein Mund dabei halboffen. Dann wendet er seinen Blick ab und geht weiter.
Ich fasse es nicht. Hole mein Fahrrad aus dem Hof, und als ich es auf den Bürgersteig schiebe, da kommt – blöder Zufall – der Mann daher, der im Nachbarhaus wohnt und mit dem ich so ein schwieriges Grüßverhälnis habe, dass es mir lieber ist, wenn ich ihm nicht begegne. Wenn ich ihn grüße, grüßt er zurück mit einem Gesichtsausdruck, der nur schwer einzuordnen ist: Schmerzverzerrt? Oder doch lächelnd? – Er arbeitet im Postamt in der Hauptstraße. Wenn ich dort einen Brief von ihm wiegen lasse und eine Briefmarke kaufe, ist es der angenehmste Umgang mit ihm. Aber jetzt gerade wieder: Er schaut mich an. Ich schaue ihn an. Ich müsste jetzt grüßen. Mache ich aber nicht. Wenn er nicht grüßt, dann grüße ich auch nicht. Er grüßt nicht.
Während ich zur Bundesallee in die Musikbibliothek fahre, ärgere ich mich. Ich würde lieber an etwas anderes denken als an die Szene mit dem Mann, der mich eben zum dritten Mal hintereinander geschnitten hat und auf meine Nachfrage auf seinem Mich-Schneiden in einer Weise beharrt hat, dass es schon wieder gut war. Sein Gesicht, als er mir gegenüber stand, mit dem halboffenen Mund geht mir nicht aus dem Kopf und ich frage mich, was ihn zu dieser harten Reaktion veranlasst hat. Ich kenne ihn nicht näher. Selbst, wenn ich es wollte, ich könnte nicht schlecht über ihn reden. Wir haben uns vor sieben Jahren kennengelernt im Café Forum. Er unterhielt sich mit Hamida, die an jenem frühen Abend an der Bar gearbeitet hat. Aus seinem Akzent habe ich geschlossen, dass er wie Hamida aus Bosnien kommt, vielleicht sogar aus Srebrenica wie sie. Neben ihm saß seine deutsche Frau und hat in einer Illustrierten geblättert. Ich habe mich an dem Gespräch von Hamida und ihm beteiligt. Von da an haben wir uns gegrüßt. Irgendwann hat seine Frau nicht mehr gegrüßt. Dann hatte ich das Gefühl, dass es ihm auch lieber wäre, wenn wir uns nicht grüßen würden. Ich konnte mir nicht erklären, warum. Inzwischen gab es die Tochter. Als ich ihn einmal mit ihr am Sandkasten auf dem Spielplatz gesehen habe, bin ich zu ihm hingegangen und habe, obwohl sein Widerwille spürbar war, ein Gespräch begonnen. Der Tochter lief die Nase, er hatte kein Taschentuch. Ich habe ihm eins gegeben. Er hat sich höflich bedankt, blieb aber bei seinem mürrischen Ton.
Auf dem Rückweg von der Musikbibliothek gestehe ich mir ein, dass ich mich nicht nur über den Vorfall ärgere, weil ich mich immer noch mit ihm beschäftige. Das war Verachtung, der ich da begegnet bin und die hat mich getroffen. Die Absicht beim Schneiden von jemandem ist, dem Geschnittenen Verachtung zu zeigen so, dass er sie spürt. Doch da ich sie nun einmal gespürt habe, möchte ich auch wissen. warum. Deshalb werde ich Gertrud, die ehemalige Besitzerin des Café Forum, anrufen, nehme ich mir vor, um sie nach der Telefonnummer von Hamida zu fragen und mit deren Hilfe herauszukriegen, womit ich mir die Verachtung ihres Landsmanns und dessen Frau zugezogen habe. So könnte mir der Vorfall sogar noch Spaß machen, weil er Hamida einen Auftritt in meinem Blog verschafft. Ich habe aus verschiedenen Gründen großen Respekt vor Hamida und sie hat einmal etwas gesagt, das mich so beeindruckt hat, dass ich eine ganze (erfundene) Geschichte aufbauen wollte auf einer Frauenfigur, die das sagt. Als ich Gertrud von dem Vorfall erzähle, weiß sie sofort, um wen es geht, obwohl sie wie ich weder den Namen des Mannes noch den seiner Frau kennt. Mit der Frau hat sie ein ähnlich schwieriges Grüßverhältnis wie ich mit dem Postbeamten. Und als ich sie frage, ob sie meint, dass der Mann gefährlich sei (gewalttätig), sagt sie, mit dem solle ich mich lieber nicht anlegen, und weist auf seine Oberarm hin: Wenn der dir eine auf die Glocke haut, dann legst du dich flach, sagt sie. Doch das ist nicht der Grund, warum ich mir inzwischen überlegt habe, dass ich keinen Gebrauch von der Telefonnummer Hamidas machen werde, die mir Gertrud gegeben hat.
Als ich heute Mittag in den Hof gegangen bin, stand eine Frau im Durchgang am Briefkasten, die im Hinterhaus wohnt. Sie ist in meinen Augen ein Freak. Ein Freak der Normalität. Es bereitet mir jedes Mal Unbehagen, wenn ich ihr begegne. Ich habe sie förmlich gegrüßt wie immer. Doch anders als sonst hat sie heute nicht zurückgegrüßt. Draußen haben wir dann nebeneinander am Straßenrand gestanden und gewartet, bis wir die Straße überqueren konnten. Ich wollte sie schon fragen, warum sie meinen Gruß nicht wie sonst erwidert hat, habe aber den Impuls unterdrückt und danach sofort gemerkt, dass das viel besser war, als wenn ich sie gefragt hätte, und dass es auch besser als jede Antwort war, die ich von ihr hätte bekommen können. Ich kann es nicht erklären, warum das so ist. Genau so wenig, wie ich es mir erklären kann, warum ich es auf einmal mit diesem Thema zu tun habe. Verachtung. Da es sich nun aber mal aufgedrängt hat, werde ich es weiter verfolgen – und dabei versuchen das anzuwenden, was ich jetzt gelernt habe: Nicht fragen, warum ich verachtet werde, sondern lieber danach, wie ich damit umgehen kann.
Ohne Beziehung zu diesem Verhaltenstraining. Hamida. Sie hat bei dem Massaker von Srebrenica 1995 ihre Brüder und den Vater ihres Kindes verloren. Als sie im Café Forum zu arbeiten begann, wurde sie von zwei anderen Bedienungen gemobbt. Als es ihr zu viel wurde, hat sie zu ihnen gesagt: Ich habe einen Krieg überlebt. Wenn ich will, dann wische ich mit euch beiden den Boden hier auf. – Das hat mich so beeindruckt, dass ich mich immer wieder daran erinnert habe, bis ich einen Charakter erfunden und mit ihm eine Geschichte entwickelt habe, in der dieser Charakter die beiden Sätze sagt: Ich habe einen Krieg überlebt. Wenn ich will, dann wische ich mit euch beiden den Boden hier auf. - Der Charakter war ein ernster Charakter, die Geschichte aber sollte eine Komödie sein.