Montag, 16. Mai 2011

Bärbel

Womit rette ich mich heute? - Rechts oder geradeaus? Wo es zuerst Grün wird. Die Ampeln die Richtung bestimmen lassen. Geradeaus und dann links. Durch den Kleistpark. Ausgang Elßholzstraße. Vor der Sophie-Scholl-Gesamtschule der gut aussehende Fotograf, zwei Kameras über die Schultern gehängt mit wuchtigen Objektiven dran. Geht auf und ab. Wartet, dass er abgeholt wird? – Zwei Mädchen, zwölf Jahre alt, schätze ich, beide haben ihre langen blonden Haare zu einem dicken Zopf geflochten. Die größere nimmt den rechten Arm der anderen, hält ihn hoch und ruft in die Richtung, aus der ich komme: Gloria! – Statt mich umzudrehen und nach Gloria zu schauen, betrachte ich die schlaff herunter hängende Hand an dem hoch gehaltenen Mädchenarm. Ist sie gebrochen?  Nein, aber um diese Hand geht es: Gloria! Bärbel hat ihm die Hand gegeben! ruft das größere Mädchen und lässt dann den Arm von Bärbel wieder los. Der Photograph mit den Kameras hat das auch mitgekriegt und lächelt, als ich an ihm vorbeigehe. - Lächelt er, weil ihm Bärbel die Hand gegeben hat. Hat er den Mädchen, dem größeren Mädchen, Bärbel und auch Gloria so gut gefallen, dass sie über ihn getuschelt haben? Und als Gloria weggegangen ist, da ist die kleine Bärbel mit dem langen blonden Zopf und dem blassen Gesicht zu ihm hingegangen und hat ihm die Hand gegeben, er hat sie genommen, sie hat darauf gekichert und verwunderlich ist nur, dass der Fotograf den Mädchen so gut gefallen hat. Denn für sein Alter, Mitte 30, ist er schon ganz schön feist.

Phantasie und Recherche
Siedlung in schönster Hanglage. Hinter dem imposanten Stadion von Rio de Janeiro, dem Maracanã-Stadion. in dem 2014 bei der Fußballweltmeisterschaft das Endspiel ausgetragen wird, und 2016 wird es das Olympiastadion sein. Als Kulisse des Stadions sieht die Siedlung am Hang sehr malerisch aus. Es ist von dort aus nicht zu erkennen, dass sie ein Elendsquartier ist. Favela. Bis zum Herbst letzten Jahres herrschte hier eine Bande von Drogendealern. Amigos dos Amigos. Berüchtigt für ihre Grausamkeit. Die Exekutionen von Verrätern und Rivalen fanden auf einem Fußballplatz statt. Er ist immer noch übersät mit verkohlten Gummistücken. Resten von Autoreifen, die Mitglieder der Bande ihren Opfern umlegten, sie mit Benzin füllten und anzündeten. Dicker schwarzer Rauch stieg dann auf über der Siedlung und die Schreie der Mordopfer waren bis in die am Fuß des Hügels gelegene Schule zu hören, wo sich die Schüler die Ohren zuhielten, um sich ungestört auf die Fußball-WM und die Olympischen Spiele freuen zu können.

Dass sich die Schüler auf die WM und die Olympischen Spiele freuen, während sie sich die Ohren zuhalten, das habe ich mir ausgedacht. Dass das Geschrei der in den brennenden Autoreifen steckenden Opfer von Amigos dos Amigos bis in die Klassenzimmer dringt, das steht in einer Reportage über die Olympiastadt Rio de Janeiro. Das hat der Autor der Reportage, der US-Amerikaner Wright Thompson, gesehen, wie sich die Schüler die Ohren zuhalten, oder jemand, der es gesehen hat, hat es ihm erzählt, oder er hat das in einer brasilianischen Illustrierten gelesen oder er hat es sich ausgedacht in der Absicht, die Phantasie seiner Leser anzuregen, damit sie sich vorstellen, wie schrecklich die Schmerzensschreie gewesen sein müssen und unter welchen Qualen die Opfer gestorben sind. Bei mir hat das nicht funktioniert, weil meine Phantasie nicht darauf aus ist, sich Details von Grausamkeiten vorzustellen. Deshalb hat sie sich in den Sarkasmus geflüchtet, dass die Studenten an die kommenden Sportereignisse denken, während sie sich die Ohren zuhalten. Daran wie die brasilianische Nationalelf triumphiert beim WM-Finale in Rio oder wie die Jugend der Welt, sich im Rhythmus von 100.000 Samba-Trommeln wiegend, einmarschiert ins Stadion zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele, die an Buntheit alles überbietet, was die Welt je gesehen hat. Während zur gleichen Zeit in Macacos, so heißt die Favela in der schönen Hanglage, die Menschen sich auf die Rückkehr der Amigos dos Amigos vorbereiten. Denn sobald die Olympischen Spiele beendet und die ausländischen Gäste abgereist sind, wird sich die Polizei aus Macacos zurückziehen und das Feld wieder den Drogendealern überlassen. Davon sind die Einwohner von Macacos überzeugt, dass es so kommen wird. Deshalb können sie die vorolympische Ruhe in ihrer Siedlung nicht genießen. Denn die Augen und Ohren von Amigos Dos Amigos sind weiterhin überall. Das ist der Kern der Geschichte, die der Autor der Reportage erzählt. Und das ist es, was seine Gesprächspartner in Macacos ihm erzählt haben. Wenn er dort war. Wenn er sich dort hin getraut hat. Wenn er das nicht nur gelesen hat und gesehen hat in brasilianischen Illustrierten und im brasilianischen Fernsehen, während er in seinem Hotelzimmer saß und es ihn gegraust hat.

Der Titel der Reportage ist Deadly Games, erschienen im Sportmagazin ESPN, und ich gebe zu, dass meine Phantasie mit mir durchgegangen ist. Denn es ist undenkbar, dass ein Reporter eines so renommierten US-amerikanischen Magazins es sich unterstehen würde, mit einer solchen Hotelzimmer-Recherche nach Hause zu kommen. Womit ich anspiele auf den Fall des Spiegel-Journalisten René Pfister und seiner Reportage Am Stellpult. Ausgezeichnet mit dem Henri-Nannen-Preis, den die Jury dem Autor wieder aberkannt hat, nachdem er frohgemut enthüllt hatte, die Modelleisenbahn Horst Seehofers, die er im szenischen Einstieg seines Textes beschreibt, nie mit eigenen Augen gesehen zu haben. Seine Eindrücke hatte er einem Bericht der Zeitschrift BUNTE entnommen. Wahrscheinlich im Wartezimmer seines Zahmarztes gelesen. Spiegel-Journalist. Der Spiegel. Das Hamburger Nachrichtenmagazin.

Feedback
Bei Oghuzan gewesen und Zigaretten gekauft; vor allem aber hat mich interessiert, ob er meinen Text von gestern gelesen hat. Wenn, dann wusste er es geschickt vor mir zu verbergen. Er hat auch gerade andere Sorgen. Der Hamburger hat nämlich Geschenkgutscheine für die Theaterkasse verkauft, die er neben dem Lotto- und Tabakwarengeschäft betrieben hat. Jetzt kommen die Beschenkten in den Laden, wollen sie einlösen, kriegen mit, dass es die Theaterkasse nicht mehr gibt, und wollen das Geld für die Gutscheine ausgezahlt bekommen. Oguzhan hat das Geld aber nicht, nie gehabt. Er ist zwar der Nachfolger des Hamburgers im Laden, aber nicht sein rechtlicher Nachfolger. Was für die Leute mit den Geschenkgutscheinen natürlich nur schwer zu begreifen ist. – Sag ihnen doch, dass der Hamburger ihr Geld mit ins Grab genommen hat. Und sie sollen sich an seine Witwen und Waisen halten. – Oguzhan verdreht die Augen: Sag ich ihnen ja. Aber dann wollen sie die Telefonnummer und Adresse haben und die habe ich nicht. – Anschließend zum Taschenladen. Obwohl mir nicht danach ist, will ich nach dem Besitzer schauen, ihm sagen, dass ich gerne mal mit ihm reden würde, aber auch bei ihm interessiert mich vor allem, ob er gelesen hat, was ich über ihn geschrieben habe, und wie er darauf reagiert. Als ich hinkomme, ist der Rollladen vor der Tür runtergelassen. Am Montagnachmittag um 15.10 Uhr. Sonderbar. Das hat bestimmt – nichts mit mir zu tun.