Donnerstag, 19. Mai 2011

Wüst

Meine Badehose, die ich in der Dusche des Hallenbades vergessen habe, liegt drei Stunden später immer noch an der gleichen Stelle. Das Brötchen fällt nicht mit der Butterseite nach unten auf den Boden! Und ich muss nicht über den Arschloch-Auftritt von Lars von Trier in Cannes schreiben. Denn als ich die Akazienstraße hoch gehe, kommt mir Michaela entgegen. Dich wollte ich heute Vormittag anrufen. – Ich war unterwegs, sagt sie – Macht nichts, ich habe dich auch gar nicht angerufen, weil der Akku meines Telefons wieder Zicken gemacht hat. Also jetzt: Nein, sie hat nicht gelesen, was ich geschrieben habe über ihren Konflikt mit ihren neuen Nachbarn. Nein, sie muss nicht am Samstag in ein Internetcafé gehen, ich bringe ihr den Text morgen vorbei; mal gespannt, was sie meint zu dem, was die Jungs vom Tabakwarenladen gesagt haben, und die kriegen dann auch gleich eine Kopie. Ich hätte sie auch heute schon auf das Posting hinweisen können, denn sie sind bestimmt im Internet, aber dann hätte ich das noch einführend erklären müssen und dazu hatte ich keine Zeit, weil ich wollte schnell nach Hause, da ich vorhatte, über Lars von Trier zu schreiben, und ich mir noch nicht ganz im Klaren war, wie ich das formulieren wollte, dass er als einer der wenigen authentischen Künstler des gegenwärtigen Kinos sich in der Pressekonferenz zu seinem neuen Film versteigen kann in den trotzigen Satz: Okay, ich bin ein Nazi, weil jeder weiß, dass er keiner ist, sondern bekannt dafür, sich gerne gehen zu lassen, aber dass er nicht vorher sagen kann, dass er Hitler versteht. Wenn einer das sagt, ob er es so meint oder nicht, und wie anders soll er es meinen, als er es gesagt hat, dann hat er sich damit für sehr lange, wenn nicht für immer verabschiedet, dann gehört er nicht zu uns, dann ist es auch egal, wo er sonst hingehört, und dann ist es richtig, dass die Festivalleitung ihn zur persona non grata erklärt hat, weil das ist er dann, eine unerwünschte Person. wenn er über sich und Hitler sagt, ich glaube, ich verstehe den Mann (*)  Nur, wie mache ich klar, dass ich mir seinen neuen Film (Melancholia) trotzdem ansehen werde. Das muss ich mir selbst erst mal klar machen. Und während ich mir das überlege. da sehe ich den Besitzer des Taschenladens vor seinem Laden stehen, und obwohl ich keine Zeit habe, muss das jetzt sein, dass ich auf ihn zugehe und ihn zu seiner Verwunderung anspreche darauf, dass ich zweimal schon in seinem Laden gewesen bin, weil ich über seinen Laden schreiben möchte in meinem Blog. – Was für ein Blog? – Ich erkläre es ihm, wie ich es immer erkläre: ziemlich wüster Blog, weil ist über mein Leben und mein Leben ist nun mal wüst. Aber weil das so ist, will ich nicht immer nur über mich schreiben, sondern nun zum Beispiel über Läden im Kiez. Und mit seinem möchte ich anfangen, weil wir beide diese Nicht-Grüß-Beziehung seit vielen Jahren schon und … . – Da hakt er ein, sagt das sei eben so in Schöneberg, dass man sich nicht grüßt, obwohl man sich kennt. In Friedrichshain, da sei das anders. Da grüßen sich die Leute, da grüßt er auch. – Aha, das ist doch schon mal interessant, denke ich. Guter Hinweis, dass das eine Schöneberger Eigenart ist. Und dann markiert er gleich noch eine andere Eigenart der Leute in Zentral-Schöneberg, aus der Perspektive des Kaufmanns, als er erklärt, dass in seinen Laden keine Schöneberger kommen. Die würden sich für seinen Laden nicht interessieren, die interessieren sich nur für ihren Rotwein und ihre Salami, sagt er, mehr wollen die nicht, mehr brauchen die nicht. – Aha. Da wäre ich jetzt nicht drauf gekommen. Der Mann ist interessant, auch als Charakter: sehr besonnen, ruhig, kein Wort zuviel, ganz anders als ich. Wollen wir uns demnächst mal weiter unterhalten? – Ja, aber. Er will sich erst mal angucken, was das für ein Blog ist. Wie heißt der noch mal? – Biest zu Biest. Biest wie Die Schöne und das Biest. Biest  z u  Biest wie von Angesicht zu Angesicht. Er notiert sich den Titel. Er wird sich das angucken. Dann wird er entscheiden. Ich nenne ihm die Überschriften der Postings, in denen ich ihn erwähnt habe: Entwarnung und Knöpfe. Danach will ich noch was Entspannendes sagen im Sinne von: Ich hoffe, Sie haben Humor. Aber da hat er sich schon in den Hinterraum zurückgezogen und ich stehe alleine da in seinem Laden. Ist auch besser so, dass ich das nicht gesagt habe. Denn als ich den Satz zum letzten Mal gebraucht habe, da hat er mir eineinhalb Jahre lang Misslingen und auch sonst nicht viel Glück gebracht. Deshalb habe ich ihn aus meinem Repertoire heraus genommen. Warum er jetzt plötzlich wieder aufgetaucht ist? Wegen der Badehose? Weil das Brötchen nicht mit der Butterseite nach unten auf den Boden gefallen ist? Weil ich mich nicht mit Lars van Triers Arschloch-Auftritt rumschlagen muss?

(*) Natürlich, er hat falsche Dinge getan, aber ich kann ihn auch sehen, wie er da am Ende in seinem Bunker hockt. Ich glaube, ich verstehe den Mann. Er ist nicht unbedingt das, was man einen guten Kerl nennt. Aber ich verstehe vieles an ihm und kann mich sogar ein bisschen in ihn einfühlen.
Pressekonferenz Melancholia - Cannes 18.05.11 
Stinkbombe und Fehlurteil - verständnisvoller Kommentar auf Spiegel Online.
Kein Nazi! - hintergründiger - lesenswerter! - Kommentar auf sueddeutsche.de.