Ich will mit seiner Freundin sprechen. Er will nicht, dass ich mit ihr spreche. Warum nicht? Was ist schon dabei? Hat er etwas zu verbergen? – Sie? - Wo ist sie? Er wird sie wohl kaum gefesselt und geknebelt im Schlafzimmer eingesperrt haben während meines Besuchs, um sie daran zu hindern, mir um den Hals zu fallen und mir ins Ohr zu flüstern: Rette mich! – Entweder sie will nicht mit mir sprechen oder sie fügt sich seinem Wunsch. Wenn sie nicht mit mir sprechen will, dann macht er das für sie, mich abzuwimmeln. Und wenn es sein Wunsch ist, dass sie es nicht tut, und sie sich ihm fügt, dann ist es auch nicht zu ändern. Was will ich also noch? Ich bin da. Sie ist nicht da. Ich rede nicht mit ihr. Ich rede mit ihm.
September 2009. Spätsommer. Früher Abend. Offene Fenster. Ich war in meiner Küche, als ich Geschrei hörte. Ich bin zum kleinen Balkon gegangen, der Ihrer Wohnung gegenüber liegt, und habe gehört, dass das Geschrei aus Ihrer Wohnung kommt. Ein Streit. Ich habe nicht verstanden, worum es ging. Nur einen Satz habe ich deutlich gehört, als die Frau in höhnischem Ton rief: Oh yeah, I had my fun! Gleich darauf wurde knallend eine Tür zugeschlagen. Und da ist mir überhaupt erst klar geworden, dass die Frau in Ihrer Wohnung, in der ich die Frau aus dem Hallenbad wiedererkannt habe, in einer engeren Beziehung zu Ihnen steht, dass sie nicht nur ein Gast oder eine Untermieterin ist, sondern Ihre Freundin sein muss. Das hatte ich bis dahin zu meinen Gunsten verdrängt, jetzt war es nicht mehr zu leugnen, denn so streitet sich nur ein Paar. – Der Nachbar hat sich das interessiert angehört, jetzt lacht er und sagt: Ich streite mich nicht mit Frauen. Nie. – Das ist jetzt aber eine ganz schwache Replik, denke ich und sage: Das kann nicht sein. – Er beharrt darauf und begründet es: Ich bin mit drei Schwestern aufgewachsen, sagt er. Und damit bringt er mich zum ersten und einzigen Mal zum Lachen. - Später, fahre ich fort, habe ich beobachtet, wie sie Abend für Abend zusammensaßen im Wohnzimmer mit der Frau, die so geschrien hatte, und wie sie sehr ernst miteinander geredet haben. Bis es dann anscheinend zum Bruch gekommen ist zwischen Ihnen beiden, an einem Samstagabend war das, als die Frau im kleinen Apartment gesessen hat, im Hintergrund stand ihre gepackte Reisetasche, Sie redeten auf sie ein, aber sie wollte nichts mehr hören, saß da mit vor der Brust verschränkten Armen und danach hatte ich den Eindruck, dass sie weg war, mehrere Wochen lang. - Wann soll das gewesen sein? fragt er. - Der Streit mit dem Geschrei war am Abend des 15. September 2009. Die Szene mit der Reisetasche war vier Tage danach.– Er schüttelt den Kopf und lacht. Nein, er kann sich an keine solche Szene erinnern, er hat keine Freundin, er hat eine Frau, aber mit der streitet er nicht, weil er mit drei Schwestern aufgewachsen ist, und er lügt: denn ich habe ihn unzählige Male streiten sehen mit der Frau, von der er sagt, dass es sie nicht gibt. - Sind Sie das älteste oder das jüngste Kind? frage ich ihn und nehme an, dass er das jüngste Kind ist. – Das dritte Kind, sagt er. Auch nicht schlecht, denke ich. Zwei ältere Schwestern, die ihn verwöhnt haben, und eine jüngere Schwester, die er verwöhnt hat. – Er zieht eine Zwischenbilanz: Meine Wahrnehmungen seien zu konkret, um als Täuschung abgetan zu werden. Womit er sagen will, er nimmt mich ernst und er will mir gerne helfen. Deshalb sucht er weiter in seinen Foto-Dateien nach einer Frau, die in Frage kommt dafür, die von mir Gesuchte zu sein, weil sie einmal in seiner Wohnung zu Gast war. – Ich komme nun zu dem, was ich die Hauptevidenz nenne. April 2009. Als ich ihn zusammen mit der gesuchten Frau an einem frühen Abend auf der Akazienstraße gesehen habe, unzweifelhaft die Frau aus dem Hallenbad, unzweifelhaft er. – Wann genau soll das gewesen sein? – Datum weiß ich nicht. Nur, dass es drei Tage vor Ostern war. – Er schaut in seinen Terminkalender auf dem Notebook. 9. April. Er liest den Eintrag von diesem Tag vor: (Name seiner Frau) kommt aus Düsseldorf mit A.D. – Kann er sich nicht mehr daran erinnern, was das Kürzel zu bedeuten hat. Und schon gar nicht kann er sich erinnern, mit der von mir gesuchten Frau am frühen Abend über die Akazienstraße gegangen zu sein. – Nach diesem Muster geht es weiter. Ich schildere Begebenheiten, bei denen ich ihn zusammen mit ihr gesehen habe. Er fragt nach dem Datum und kann sich nicht daran erinnern. Es tut ihm leid, er hat keine Freundin. – Vergangenes Silvester habe ich Sie mit zwei Frauen hier in diesem Zimmer feiern sehen. – Zwei Frauen? fragt er amüsiert staunend und wenn er jetzt noch nach dem Datum von letztem Silvester fragt, dann würde er mich noch mal zum Lachen bringen. Aber er geht einfach darüber hinweg und ich insistiere nicht. Ich erwähne auch nicht die andere große Streitszene, als er seiner Freundin das Fernsehgerät hinterher getragen hat, nachdem sie sich in das kleine Apartment zurückgezogen hatte und nicht mehr mit ihm reden wollte (Januar 2010). Oder den unvergesslichen Auftritt, als er an einem Vormittag im letzten November minutenlang am Fenster des kleinen Apartments stand und zu mir rüber gestarrt hat. Warum eigentlich? Was wollte er mir da zeigen? – Ich frage es nicht. Ich weiß jetzt, wie er lügt. Ich kann mir seine Antworten denken. Ein Fernsehgerät gibt es nicht in seiner Wohnung. Und das im November, was für ein Tag war das genau? Da muss er mal in seinem Kalender nachsehen und da gibt es dann bestimmt einen Eintrag, den er nicht mehr entschlüsseln kann, aber am Fenster gestanden hat er nicht, das weiß er ganz genau: er starrt nicht in fremde Wohnungen.
Er hat mich müde gespielt und scheint jetzt selbst seines Spiels überdrüssig zu werden. Er fragt mich nach meiner E-Mail-Adresse für den Fall, dass ihm noch etwas einfällt (Witz! Sein Witz, nicht meiner). Und er macht sich nun allen Ernstes Notizen, fragt noch mal, wie die Frau aussieht, die ich suche. Das ist die Stelle, wo er sagt: breiter Hals, und ich beharre auf kräftiger Hals und füge hinzu: eben kein Schwanenhals. Ich erzähle ihm dann noch von der von mir so genannten klandestinen Kommunikation, die ich mit der Frau hatte: sie in meinen Rechner eingehackt, ich ihr schreibend, sie antwortet mit Zeichen, unter anderem mit dem Licht des Dachfensters. Ich sage, dass sie sich nicht ein Mal mir gegenüber verbal geäußert hat. Das scheint ihn zu überraschen. Hat sie ihm erzählt, dass sie stundenlang gequatscht hat mit mir? Witz! Mein Witz. – Ich sage, dass sie es geschafft hat, mit dem Licht des Dachfensters Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Und jetzt hat er mich. Dieses Fenster befindet sich im Treppenhaus. Das Licht, das da zu sehen ist, das ist das Treppenhauslicht. Das ist mit einer Zeitschaltuhr gekoppelt. Wie soll jemand damit Emotionen zum Ausdruck bringen? – Das habe ich mich selbst schon gefragt, denn das habe ich mir auch gedacht, dass es nicht anders sein kann, als dass sich dieses Fenster im Treppenhaus befindet. Aber ich habe es unzählige Male erlebt, wie sie mit dem Licht reagiert hat auf das, was ich ihr geschrieben hatte. Ich habe es gesehen, wie das Licht gedimmt war, so dass es kaum noch wahrzunehmen war: Trauer, Ärger. Wie es heller leuchtete als gewöhnlich: Freude, Zustimmung. Wie es geflackert hat: Schmerz, Enttäuschung, Wut. Wie es kurz an und wieder ausging: Ich bin da. Oder wie es kurz aus und wieder anging: Zustimmung: ja, mach! (*)
Als wir uns vor der Wohnungstür verabschieden, schaue ich hoch zu dem Dachfenster. Er wiederholt, was er über meine Wahrnehmungen gesagt hat: zu konkret, um als eingebildet abgetan zu werden, aber so wie es nun mal aussieht doch eine Phantasmagorie. Er gebraucht nicht dieses Wort. Ich erinnere mich nicht daran, was er genau gesagt hat. Ich habe nicht mehr richtig zugehört. Wir verabreden, dass ich ihn anrufe, wenn ich noch weitere Fragen habe. Ich bin langsam, erkläre ich. Ich muss das alles jetzt erst mal verarbeiten. Die Hand haben wir uns schon gegeben. Ich wende mich ab und dabei winke ich ihm zum Abschied zu. Er erwidert mein Winken. Ich lasse meinen Arm herabsinken, mehr fallen als sinken, so dass meine flache Hand gegen meinen Oberschenkel schlägt. Da bin ich schon auf der Treppe, von ihm abgewandt, und nun höre ich, wie er das Gleiche macht, wie er mit der flachen Hand gegen seinen Oberschenkel schlägt, nachdem er seinen Arm mehr fallen als herabsinken hat lassen. Warum? Er hat doch keine Veranlassung zu dieser resignativen Geste? Er glaubt doch jetzt, mich ein für alle Mal abgewimmelt zu haben.
(*) Das Dachfensterlicht ist das zweite große Rätsel in der Geschichte: Wie schafft sie es, mit diesem Licht, das ein mit einer Zeitschaltuhr gekoppeltes Treppenhauslicht ist, so differenziert Zeichen zu geben? – Und es ist das Treppenhauslicht. Es gibt nur diese Glaskuppel auf dem Dach des Hauses, die sich über dem Treppenhaus befindet. Das habe ich mit Google Earth überprüft. Aber wenn das Licht das Treppenhauslicht ist, warum sehe ich es dann nicht häufiger? Zum Beispiel am frühen Abend im Winter. Fünf große Wohnungen gibt es in dem Haus. Da muss es doch am frühen Abend im Treppenhaus Aktivität geben, da muss das Licht doch immer wieder ein- und nach kurzer Zeit von der Zeitschaltuhr wieder ausgeschaltet werden. Ich kann es mir nicht erklären. So wenig, wie ich es mir erklären kann, dass er die Existenz der Frau leugnet, die ich mit ihm in seiner Wohnung gesehen habe und die nicht identisch ist mit seiner Frau, sondern seine Freundin war oder es immer noch ist. Wegen der Korrektheit muss ich es prinzipiell für möglich halten, dass er die Wahrheit sagt. Aber ich weiß, dass er lügt. Und ich weiß jetzt auch, wie gut er lügt. Er lügt so gut, dass ich mich frage, wer ist er, was macht er sonst noch, wenn er so gut lügt?