Mittwoch, 1. Juni 2011
Scarlatti
Gibt es eigentlich auch noch Leute, mit denen ich zurechtkomme? – Ja. Zum Beispiel die Frau in der Musikbibliothek, in etwa in meinem Alter, ähnliche Musikinteressen wie ich, ruppig, schnauzt die Leute an, dass sie zusammenzucken – nur mich nicht. Heute Morgen überprüfe ich mein Bibliothekskonto, ob auch alles seine Richtigkeit hat, nachdem gestern in der Bibliothek der Computer abgestürzt ist, just in dem Moment, als die mir sympathische Bibliotheksangestellte meine Abgaben und Ausleihen eingegeben, doch wegen Absturz keine Bestätigung mehr erhalten hatte vom System. Soll ich mal lieber weggehen? habe ich sie gefragt und meinte damit eigentlich: um sie nicht zu stören in dem kritischen Moment. Sie blickte zur fünf Meter entfernt sitzenden Kollegin und deren leerem Bildschirm und sagte: Nee, bleiben Se mal. Das sind nicht Sie, das ist das System. Absturz. Wird schon gut gegangen sein, meinte sie dann und reichte mir den Stapel CDs, die ich ausleihen wollte. Bis zum nächsten Mal. - Nun zeigt mir der Blick auf mein Bibliothekskonto heute Morgen, dass da die CD mit Scarlatti-Sonaten, eingespielt von Rubinstein, immer noch als entliehen aufgeführt ist, obwohl ich sie gestern zurückgegeben habe – und das Einlesen meiner Rückgaben mehrere Minuten vor dem Systemabsturz lag. Auch das noch! Alptraum jedes Bibliotheknutzers: Wenn die CD von Ihnen zurückgegeben wurde, dann steht das auf Ihrer Rückgabe-Quittung. – Rückgabe-Quittung? – Heißer Kopf. – Habe ich die noch? Ja, gestern entgegen meiner Gewohnheit eingesteckt. Quittung: Scarlatti, Scarlatti, Scarlatti. Kein Scarlatti auf der Quittung. Ich sehe mich schon verwickelt in fruchtlose Diskussionen und am Ende muss ich das Geld für den Neuerwerb der CD dann doch zusammenkratzen. - Die Bibliothek öffnet um 14 Uhr. 13.55 Uhr bin ich da. Zum Glück arbeitet sie heute wieder, die Frau, mit der ich so gut zurechtkomme, und nicht ihre pingelige Kollegin. Ich erwarte einen Härtetest unserer Sympathiebeziehung und zucke zusammen, als sie den Mann hinter mir zusammenstaucht, weil er schon mal den Stapel Partituren und CDs, die er zurückbringt, auf der Theke ablegt, und sie jetzt - gefälligst! - wieder an sich nehmen soll, bis er an der Reihe ist. Doch dann ist alles ganz einfach. Sie hört sich meinen Fall an, dann geht sie weg, in einen Hinterraum, und kommt zurück mit der Scarlatti-CD, um die es geht, und sagt nur mit tadelndem Blick über ihre Lesebrille: Horowitz! - Von wegen Rubinstein. Na ja, ich habe die CD nur ein Mal gehört und dann festgestellt, wenn Scarlatti, dann gespielt von Pogorelich. - Und wo war die jetzt, die CD? frage ich. – Weggelegt zur Konvertierung. – Ich will gar nicht wissen, was das bedeutet, und sage erleichtert: der Systemabsturz. – Sie guckt wieder über den Rand ihrer Lesebrille, jetzt verschmitzt wie ein Mädchen und sagt: Nee, das war ich. So was passiert mir schon mal. – Ich: So eine sind Sie also, die ihre Fehler zugibt! – Sie übergeht das Kompliment und murmelt, dass das nicht immer von Vorteil ist, so ehrlich zu sein. - Oh doch, das ist sehr gut, dass sie so sind, sage ich und denke in diesem Moment nicht an den Ärger, der mir gerade erspart geblieben ist, sondern an all die Lügner, von denen ich mich umzingelt fühle. Eine Bereitstellung, auf die ich schon seit sechs Wochen warte, gibt es dann auch noch: PJ Harvey, Let England Shake. Und als ich ins Freie trete, zeigt sich zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne. Auf den Stufen des Gebäudes, in dem sich auch die Räume der UDK-Fakultät Musik befinden, sitzen Studenten, die rauchen und telefonieren. Darunter auch zwei Japanerinnen, die rauchen und miteinander reden. Zu denen würde ich mich jetzt am liebsten dazu setzen, aber ich habe meine Zigaretten nicht dabei. Auf dem Rückweg überlege ich mir, warum ich mich immer so hingezogen fühle zu den japanischen Studentinnen, von denen es auffallend viele gibt in diesem Gebäude der UDK. Begehre ich sie? 20, 22jährige Musikstudentinnen? – Ich komme zu dem überraschenden und beruhigenden Ergebnis: Nein. Ich wäre nur gerne eine von ihnen. Ich wäre gerne eine japanische Musikstudentin an der UDK. An diesem Nachmittag, an dem ich mir endlich einmal nicht mehr so gestört vorkomme wie an den scheußlichen Tagen zuvor.