Montag, 6. Juni 2011

Grunewaldstraße 80

Im letzten Moment knicke ich ein. Als ich der Frau gegenüber stehe, die mich immer so liebenswürdig bedient hat, bringe ich es einfach nicht über mich, sie mit meinem zwiespältigen Ansatz zu irritieren, und sage: Dann mache ich am besten da weiter, wo ich letztes Jahr aufgehört habe, und nehme eine Kugel Schokolade und eine Kugel Walnuss. Zum Mitnehmen. In der Waffel. – Klassisch. Zum Schlecken das Eis, nicht zum Löffeln aus dem Becher. – Doch dann denke ich, nein, das Risiko gehe ich nicht ein. Kein Spiel mit dem Rückfall. Das Eis wird mir so gut schmecken, dass ich es nicht mehr einsehe, darauf zu verzichten und – leck-schleck – schon hänge ich wieder drin in der Sucht, der Süßigkeitssucht, die im letzten Sommer angefangen hat mit zwei Kugeln Eis, die ich mir jeden Sonntag gekauft habe im Eisladen in der Grunewaldstraße, selbst an Sonntagen, an denen es gestürmt und geschüttet hat, und ich fand überhaupt nichts dabei mit meinem Eis durch den strömenden Regen zu gehen; dann muss man eben schneller schlecken. Und als die Eis-Saison vorbei war, der Laden in der Grunewaldstraße geschlossen, die liebenswürdige Frau zum Überwintern in Indien, da habe ich es mir jeden Nachmittag mit Schokoladenkeksen gegeben, den ganzen Winter lang, bis ich mich geekelt habe, nicht vor den Keksen, vor mir habe ich mich geekelt, und als ich dann auch noch den grundlegenden Artikel in der New York Times gelesen hatte: Is Sugar Toxic?, da hat es mich gegraust davor, was ich mir angetan hatte einen Sommer und einen Winter lang mit meiner Süßigkeitssucht, in die ich mich geflüchtet hatte aus Charakterschwäche und weil es keine andere Süße gab. Das die Vorgeschichte. Und jetzt bin ich auf dem Weg zum Eisladen in der Grunewaldstraße, um mit der Besitzerin zu sprechen, da ich über ihren Laden und das köstliche Eis schreiben möchte. Aus Dankbarkeit für die Genüsse des letzten Sommers. Aus Sympathie für die Frau. Und um meinen Lesern den Tipp zu geben: Wenn Eis, dann da. Aber wie gehe ich es an? Die liebenwürdige Frau vor den Kopf stoßen, indem ich gleich klar mache: Eis will ich keines kaufen, ich will (nur) über Ihren Laden schreiben? Oder indem ich einknicke, wie eben erwogen: ein Mal ist kein Mal (von wegen!). Oder – könnte ich nicht auch so eröffnen, dass ich frage, ob sie auch Eis mit weniger oder gar keinem (toxischen) Zucker hat, gesüßt mit Honig oder anderem Fruchtzucker? Das ist es? Das werde ich sie fragen, so werde ich mit ihr ins Gespräch kommen und dabei auf eine konstruktive Art zu verstehen geben, dass es mit Schokoladeneis ein für alle Mal aus ist in meinem Leben. Da sehe ich einen Ball über den Apostel-Paulus-Kirchplatz rollen. Im nächsten Moment kommt der schöne Zacko hinter dem Ball her gerannt und haut sein Gebiss ins Gummi. Und da ist auch schon die gern gesehene Nachbarin. Ball, Hund. Conny. Das war eben eine perfekte Dramaturgie, sage ich zu ihr. – Ja, in Dramaturgie bin ich gut, antwortet sie. Mein erster Freund hat immer gesagt, ich sei eine Drama Queen. – Das kann ich mir gut vorstellen, sage ich und frage mich, was das Maskulinum von Drama Queen ist, denn das wäre dann ich. Während wir uns unterhalten, wirft Conny unermüdlich für Zacko den Ball, der eigentlich gar kein Ball mehr ist, sondern nur noch eine zerkaute Gummimasse, die aber erstaunlicherweise immer noch hüpft, so dass Zacko seine ungetrübte Freude hat. Und jetzt muss ich weiter, Conny. Bis zum nächsten Mal. Schon beim Einbiegen in die Grunewald sehe ich, dass der Sonnenschirm vor dem Eisladen nicht geöffnet ist und keine Tische und Stühle draußen stehen. Die lehnen zusammengeklappt drinnen an der Theke. Geschlossen. Montags Ruhetag? Es steht nichts angeschrieben. Ich frage nach im Restaurant Jäger und Sammler nebenan. Die Leute dort unterhalten keine nachbarschaftliche Beziehung zum Eisladen und der Begriff Ruhetag ist ihnen auch unbekannt; sie haben keinen. Auch im Schmuckladen auf der anderen Seite Verwunderung, als ich frage, ob der Eisladen heute Ruhetag hat. Der Besitzer ist ein Inder – eine Art Inder, weil er könnte auch ein Bangladeschi sein oder ein Pakistani. Er geht mit mir nach nebenan, um nachzusehen, was da los ist, weil er es nicht glauben kann, dass der Eisladen geschlossen ist. Und ich weiß jetzt nicht, was ich machen soll. Morgen ist bestimmt wieder geöffnet. Gehe ich dann noch mal hin? Erzähle ich der Besitzerin, wie ich dumm dagestanden habe vor ihrer Ladentür und komme so mit ihr ins Gespräch? Oder war das jetzt schon meine Geschichte über den Eisladen? - Für alle Fälle hier die Fakten:
Leckerei
Grunewaldstraße 80
10823  Berlin
030 56733880

In ihrem Laden, der genau genommen ein Café ist, verkauft die Besitzerin auch von ihr selbst gebackenen Kuchen, der immer sehr verlockend aussah, probiert habe ich ihn allerdings nie, weil ich immer nur wegen dem einen in den Laden gekommen bin, wegen dem Eis, nach dem ich einen Sommer lang süchtig war: hausgemachtes italienisches Eis, das beste weit und breit.

So, und jetzt kommt´s. Im Internet nachgeguckt, hätte ich mal vorher machen sollen, denn da steht es:
Mo: geschlossen
Di - So: 12:00 - 20:00