Dienstag, 7. Juni 2011

Neumond

Der jungen Frau im Kaiser Kiosk geht es heute nicht gut. Es ist zum ersten Mal, seit wir uns über unser Befinden austauschen, dass es mir anders geht als ihr. Denn ich habe heute schon ein paar Mal gelacht, erzähle ich und dann schaue ich mich um im Laden, die Gelegenheit ist günstig, wir sind ungestört: Von euch allen kenne ich mittlerweile den Namen, von Serhat, von Gülcan, von Oguzhan, nur von Ihnen noch nicht, sage ich. Worauf sie sagt: Hila. Das bedeutet Neumond. Alle türkischen Namen bedeuten nämlich etwas. – Ich weiß, unterbreche ich sie und ärgere mich noch im selben Moment darüber, denn es wäre viel interessanter gewesen zu hören, was sie über türkische Namen erzählt, als darüber zu reden, was ich sie nun frage: ob das ein verbreiteter oder seltener Name ist. Ich höre diesen Namen nämlich zum ersten Mal. – Nein, Hila ist kein ungewöhnlicher Name im Türkischen. Im Arabischen gibt es einen ähnlichen Namen: Hela. Das bedeutet aber etwas anderes. Es gibt Sachen, die wir nicht essen dürfen. Und was wir essen dürfen, das ist hela. – Es gibt Sachen, die wir nicht essen dürfen. Es gefällt mir, wie sie das sagt. Hila!

Die Frau im Eisladen erinnert sich anscheinend nicht mehr an mich. So oft war ich auch nicht da. Doch oft genug, um ein zufriedener Kunde zu sein. Als der stelle ich mich vor und erzähle ihr, dass ich gestern vor ihrer verschlossenen Tür gestanden habe und darauf diesen Text geschrieben habe in meinem Blog. Ich reiche ihr die drei Seiten mit dem Ausdruck meines Postings von gestern, und als sie darauf schaut und die Überschrift liest: Grunewaldstraße 80, da lächelt sie. Ich sage dann noch das, was ich immer über meinen Blog sage und was letztlich ein Geziere ist. Denn, wenn er mir chaotisch vorkommt und wüst, warum ändere ich das dann nicht? Und wenn ich es nicht ändern will, warum distanziere ich mich dann von ihm, indem ich ihn chaotisch und wüst nenne? Antwort: Ich werde mir das abgewöhnen. Und hier ist schon die erste Gelegenheit dazu. Ich sage zu der Frau aus dem Eisladen, dass ich demnächst mal vorbei kommen werde, um zu hören, was sie zu dem Text meint. Sie nickt: Ja, gerne. Und es ist zu erkennen, dass sie sich richtig freut. Wie über ein Geschenk. – Mal abwarten, ob sie sich auch noch freuen wird, wenn sie das Geschenk ausgepackt hat, denke ich, nachdem ich mich von ihr verabschiedet habe. Antwort: Warum denn nicht? Vielleicht freut sie sich dann sogar noch mehr, wenn sie den Text gelesen hat.

Die Frau von gegenüber kann mir gestohlen bleiben oder sie ist ein Gespenst und will von mir befreit werden aus ihrem Gespensterdasein und davor kann ich mich nicht drücken, nur  weil diese Mission die schwierigste ist, in der ich je unterwegs war. Dass sie mir gestohlen bleiben kann, darauf komme ich beim Schwimmen heute Früh im Hallenbad am Heidelberger Platz, als ich mich erinnere an die beiden Male, da wir uns dort gesehen und begrüßt haben als Bekannte aus dem Stadtbad Schöneberg. Sie bei der Begrüßung sehr förmlich und so distanziert, als wäre sie nie drei Zentimeter vor meinem Gesicht aus dem Wasser geschossen gekommen  - ja, das hat sie einmal gemacht und ich war so überrascht in diesem Augenblick, dass mir nichts anderes eingefallen ist, als zu lachen und weiter zu schwimmen, als wäre nichts gewesen, so wie sie später am Heidelberger Platz getan hat, als wäre nichts gewesen. Während ich mich daran erinnere, denke ich an das erste Kapitel von Colettes Roman Tango, das sie mir zum Lesen gegeben hat. Darin begegnen wir einer Frau, die in der Stabi arbeitet an ihrer Dissertation und – wie es präzise formulieren? - sich für einen Mann interessiert, der dort auch arbeitet - sich interessiert, verliebt kann man es nicht nennen, denn sie dementiert fortwährend ihr Interesse an dem Mann, ihm gegenüber ohnehin und auch gegenüber sich selbst. Und darum scheint es in dem Roman auch zu gehen: um eine Liebesgeschichte, die sich nicht entwickelt, weil die Frau aus der Stabi ihr Interesse an dem Mann nicht zulässt, indem sie es fortwährend dementiert und dann sicher auch handfest sabotiert, wie im Schlusskapitel, das Colette mir als zweiten Auszug gegeben hat. Jetzt möchte ich unbedingt den ganzen Text lesen. Denn, wenn ich es richtig verstanden habe, gibt Colette uns in ihrem Roman einen Einblick in einen Fall weiblichen Wollens und Nicht-Könnens, wie er mit dieser Ehrlichkeit noch selten beschrieben worden ist. Und wenn das so sein sollte, dann kann ich vielleicht mit Hilfe ihres Romans endlich verstehen, was mir mit der Frau von gegenüber passiert ist, und unsere Geschichte zu Ende erzählen. Denn siehe oben: Wenn die Frau von gegenüber ein Fall solchen Wollens und Nicht-Könnens ist, dann  habe ich genug von ihr und mir bleibt nur noch, meine Dankbarkeit zu bekunden, das auch einmal erlebt zu haben, aber zum Glück nicht mehr davon. – Oder sie ist ein Gespenst. Dafür spricht, dass der Nachbar nichts von ihrer Existenz weiß und das so überzeugend, dass es kaum vorstellbar ist, dass er so gut lügen kann. Das würde bedeuten: Er kann nichts von ihr wissen, weil sie sich nur mir zeigt, ihm nicht, obwohl sie in seiner Wohnung haust und spukt. Die Gespensterhypothese hat zugleich etwas Tröstliches und etwas Versöhnliches. Tröstlich ist: Ich muss in dem Nachbarn nicht länger einen Rivalen sehen, denn er hat nichts mit ihr zu tun oder je zu tun gehabt, sie hat sich die Wohnung dort drüben ausgesucht nicht seinet-, sondern meinetwegen, um mir so nahe wie möglich zu sein. Versöhnlich: Ich muss den Nachbarn nicht mehr länger als verlogen und manipulativ hinstellen, ich kann ihn als den behandeln, als der er mir auch tatsächlich begegnet ist bei meinem Besuch in der Wohnung gegenüber: als sympathischen, verständnisvollen, hilfsbereiten Menschen, der mich sicher auch weiterhin unterstützen wird bei meiner Mission, die alleine schon deshalb so schwierig ist, weil ich nicht an Gespenster glaube.