Heute mal ohne Dialog. Heute nur Beobachtungen. Wenn ich welche mache. Denke das und sehe, wie die alte Sinti- oder Roma-Frau mir ihre leeren Hände zeigt. Ich bewundere die Anmut der Bewegung, mit der sie ihre Arme hebt und ihre Hände öffnet und gebe ihr nichts. Ich denke gar nicht daran. Warum eigentlich? Wegen der Professionalisierung des Bettelns bei ihresgleichen? Aber doch gerade dann müsste man etwas geben. Sie leben davon. Und ist es nicht ein Beruf wie jeder andere? So wie zum Beispiel auch Vater sein und den Säugling herum fahren, weil die Mutter hat Besseres zu tun, heißt: sie hat den einträglicheren Job oder überhaupt einen. Und weil das vernünftig ist, wird dieser Lebensentwurf subventioniert mit Staatsgeld. Das der Kontext bei der nächsten Beobachtung. Ein afrikanischer Mann mit Kinderwagen im Getriebe an der Bushaltestelle auf der Hauptstraße gegenüber der Kaiser-Wilhelm-Passage. Der Mann eineinhalb Köpfe größer als ich, Bild von einem Mann. Vielleicht vom Stamm der Nuba? Und schon komme ich vom Lebensentwurf des Paares, das er bildet mit einer Frau, die einen besseren Job hat als er oder überhaupt einen, auf Leni Riefenstahl. Die hat, als sie schon eine alte Frau war, aber noch lange nicht tot, einmal eine Photoarbeit über die Nuba gemacht. Aber ich will nicht an Leni Riefenstahl denken und ich will nicht mal erklären, warum. Ich sehe einen großen Zeh in einem Flip Flop, ungewöhnlich langer, schlanker großer Zeh. Die Frau, die ihn hat, steht mit einer anderen jungen Frau vor mir in der Warteschlange vor der Kasse in der Back-Factory und ich bemerke, dass die andere Frau, die hübscher ist als die mit dem großen Zeh, unförmige dicke Waden hat. Worauf ich denke, was ich in so einem Moment immer denke: dass es an Rassismus grenzt, solche Wahrnehmungen zu machen. Warum sollen ihre kräftigen unharmonisch geformten Waden schlechter sein als die schlanken harmonisch geformten Waden, die ihre Freundin vielleicht hat. Vielleicht, weil sie Hosen trägt und ihre Beine heute Nachmittag nicht zeigt. Nur ihre Zehen in ihren Flip Flops sind sichtbar, und wenn ihre Beine so sind wie ihre großen Zehen … - und wenn ich keine anderen Beobachtungen mache als diese, dann sollte ich es lieber lassen und jemanden finden, der mit mir zu reden bereit ist. Doch dazu ist es zu spät. Denn ich habe mich in eine Schweigsamkeit zurück gezogen, aus der ich nicht mehr rauskomme, und alles ist jetzt nur noch ein Fall von schön oder hässlich. Vor den Kassen bei Reichelt, wo ich mittlerweile eingekauft habe, gehe ich unschlüssig hin und her, bevor ich mich für eine Kasse entscheide, weil die Kassiererinnen mir alle nicht passen wegen ihrer Hässlichkeit und am wenigsten passt mir eine dicke hässliche Kassiererin, die mir vor kurzem begegnet ist mit einer Derbheit, dass ich mich hinterher wie angespuckt gefühlt habe. Ich stelle mich an bei der rothaarigen Kassiererin mit dem sächsischen Akzent, die mir eine der liebsten Reichelt-Kassiererinnen ist und die ich erst zuletzt bemerkt habe. Vor mir dran ist eine Frau, die ich nicht wahrgenommen hätte, wenn nicht zu ihren Einkäufen auch zählen würden die aktuellen Ausgaben von Die Zeit und der deutschen Vogue. Auf der Titelseite der Zeit ist ein rotbemalter Frauenmund und ein tiefes Dekolleté abgebildet und es wird die Frage gestellt: Wann wird die Frau zum Sexobjekt? - Den Blick abwendend betrachte ich die Käuferin dieser Zeit-Ausgabe, die vor mir stehende Frau, und denke, das kann ihr nicht so leicht passieren, zum Sexobjekt zu werden. Und: Was verspricht sie sich vom Kauf der Vogue, so wie sie aussieht? – Ich missbillige sofort, dass ich das gedacht habe, und betrachte die Frau genauer; ich versuche etwas an ihr zu entdecken, das mich beschämt wegen meines unsäglichen Gedankenreflexes von eben. Die Frau ist etwa so groß wie ich (180 cm) und Mitte 40, schlank, ihr Gesicht ist hager, verhärmt, auf eine ungesunde Art bräunlich, ihre aschblonden Haare hat sie zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trägt ein blauweiß geringeltes weites Top, Jeans und dazu beige Ballerinas aus Wildleder. Als sie weggeht, bemerke ich, dass sie sehr dünn ist – runtergehungert oder krank. Bevor sie weggegangen ist, hat sie bemerkt, dass ich sie beobachte, und hat zu mir hergeschaut. Ich bin ihrem Blick ausgewichen und habe so getan als wäre nichts. Noch während dessen ist mir klar geworden, dass ich darüber schreiben werde: über meine unkorrekten Gedanken und was dann daraus wurde. Nichts. Aber das darf nicht sein. Ich nehme mir vor, nur über die Frau zu schreiben, wenn es mir gelingt, sie auf irgendeine Art gut wegkommen zu lassen dabei. Es ist mir nicht gelungen. Danach ist mir nur noch eingefallen zu ihr, dass sie bestimmt nicht krank, sondern so weit runtergehungert ist, dass sie krank aussieht, und dass das ihre Art ist, sich attraktiv fühlen, und so teilzunehmen an der Attraktion von Weiblichkeit in der Vogue und der Empörung der Iris Radisch in der Zeit über die voyeuristische Ausbeutung von Frauenkörpern in der Öffentlichkeit unter der Überschrift: Wann wird die Frau zum Sexobjekt? - Als ich noch ferngesehen habe und es noch Das Literarische Quartett gab, habe ich die Sendung oft nur deshalb bis zum Ende angeschaut,
weil ich Iris Radisch sexy fand. Vor allem ihre Hände und wie sie sie bewegt hat beim Reden, das meist ein sehr leidenschaftliches Reden war, wie unter großem Druck hervorgebracht. So weit das im Fernsehen zu erkennen war, hat Iris Radisch stämmige Beine – Beine, die ich als dick und als unansehnlich beschreiben würde, wenn ich ihr hinterher schauen würde, was aber beim Ansehen des Literarischen Quartetts nicht möglich war und was eigentlich auch verboten gehört, denn es ist nicht korrekt eine Frau so anzuschauen, und deshalb wird es bestimmt auch irgendwann verboten sein. Aber dann bin ich schon tot.