Donnerstag, 9. Juni 2011

Körperverletzung

Bettina hatte den Geschenkartikel-Laden in der Eisenacherstraße auf der Ecke gegenüber der Apotheke. Inzwischen lebt sie auf Fuerteventura, betreibt dort einen Handel mit Porzellanwaren und die Organisation des Festes kann sie auch von dort aus machen. - Festes? – Des Kürbisfestes. Das ist meine Idee gewesen, das zu veranstalten. – Kürbisfest: Im Oktober stattfindendes Straßenfest in der Akazienstraße; Mittelpunkt ist der Apostel-Paulus-Kirchplatz und inzwischen gibt es dazu noch einen Rummel auf der Grunewaldstraße. Riesen-Ereignis (Event). Und Bettina organisiert das Fest von Fuerteventura aus. Immer wieder verblüffend, was ich alles nicht weiß von den Leuten. Sie spricht mehrmals von wir. Ich frage sie, wer ist wir? Darauf erzählt sie, dass sie seit zwei Jahren mit einem Mann zusammen ist, den sie auf Fuerteventura kennengelernt hat. Frank. Seit drei Wochen ist sie mit Frank verheiratet. Wir stehen vor dem Tabakwarenladen von Sülo und Sinan. Da war ich drin, bevor ich sie getroffen habe. Im Laden ist mir ein Mann aufgefallen, stattlicher Mann: groß, kräftig, um Bauch und Hüften korpulent; kontrastierend zu seiner massigen Gestalt seine feinen Gesichtszüge. Dieser Mann kommt jetzt aus dem Laden und ist Frank. Bettina stellt ihn mir vor, ich stelle mich vor, indem ich meinen Vornamen murmle, und ergreife nichtsahnend seine Hand, die er mir zur Begrüßung hinhält. Das Geben der Hand ist ein archaisches Ritual. Fremde begegnen sich in der Steppe oder im tiefen Wald und zeigen sich, indem sie sich die Hand geben, dass sie keine Waffe in der Hand halten wie zum Beispiel einen Faustkeil, mit dem sie gleich dem anderen eine klaffende Gesichtswunde zufügen könnten. Ich will nicht übertreiben: es tut nicht so weh, dass ich aufjaule vor Schmerz. Es ist auch nicht so, dass es ein knirschendes oder knackendes Geräusch in meiner Hand gibt, als Frank zudrückt. Er hat mir nicht die Hand gebrochen. Er hat sie mir gequetscht. Und den Schmerz verspüre ich erst, nachdem ich über den ersten Schock weg bin: Du hast aber einen festen Händedruck, sage ich entgeistert und mit höflicher Untertreibung. Er geht darauf nicht ein und Bettina erzählt etwas, ich weiß nicht mehr was, denn jetzt breitet sich der Schmerz aus auf meinem Handrücken und in den Gelenken des kleinen und des Ringfingers. Hey, das tut richtig weh! sage ich. Ungerührter Blick Franks. Kein Kommentar dazu von Bettina. Sie kennt das bestimmt schon und weiß, dass er das mit jedem macht oder nur mit ausgesuchten Leuten wie zum Beispiel mit mir. Aber warum mit mir? Was habe ich ihm getan? – Mein Überlebensinstinkt hält es für geboten, ihm zu erklären, wie Bettina und ich bekannt wurden miteinander, nämlich als entfernte Nachbarn. Unwillkürlich betone ich entfernt, und signalisiere ihm damit: wir kennen uns nicht näher, wir haben uns nie näher gekannt. Du hättest mir nicht die Hand quetschen müssen. Ich bin kein Konkurrent. Ich konkurriere mit anderen Männern als mit dir. Ich schweife ab.  - Wir verabschieden uns. Bettina und Frank fahren mit ihrem Fahrrädern weg. An der nächsten Ecke sehe ich sie anhalten. Bettina geht in die Apotheke. Frank wartet draußen. Instinktiv mache ich einen Bogen um Frank, als ich an der Apotheke vorbeigehe.

Eine Stunde später läutet Christoph bei mir. Wir wollen die ägyptische Wasserpflanze umtopfen, die er mir überlassen hat und die mir so ans Herz gewachsen ist. Deshalb sehe ich der Aktion mit Bammel entgegen. Um der Pflanze Raum für ihr Wachstum zu geben, wollen wir sie nämlich teilen, auf zwei Töpfe verteilen, und teilen wollen wir sie, indem Christoph ihr Wurzelwerk, das im Topf eine zylindrische Form angenommen hat, mit einer Fuchsschwanzsäge durchsägt. Das hat er schon einige Male gemacht mit der Pflanze und hinterher hat sie es ihm gedankt mit einem üppigen Wachstumsschub. Doch vorher müssen wir ihr richtig weh tun. Ich halte die Pflanze mit beiden Händen unten an ihren Stängeln fest und Christoph durchtrennt ihren Wurzelstock mit wenigen Sägebewegungen. Die Pflanze schreit nicht vor Schmerz, weil sie nicht schreien kann. Während ich sie mit festem Griff halte, spüre ich in meiner rechten Hand immer noch die Nachwirkung des Händedrucks von Frank – und zwar so, dass noch nicht klar ist, ob der Schmerz zunehmen wird, weil etwas kaputt gegangen ist in meinen Mittelhandknochen, oder ob der Schmerz abklingen wird in den nächsten Tagen. Christoph ist in einem protestantischen Pfarrhaus aufgewachsen. Er hat die Tendenz, hinter Menschen und ihren Handlungen nur Gutes zu vermuten. Ich erzähle ihm von meiner Begegnung mit Bettina und davon, wie ihr Mann Frank mir die Hand gequetscht hat. Ich erwarte, dass er auf Arg- und Absichtslosigkeit plädieren wird. Dass er sagt, der Mann strotzt so vor Kraft, der merkt das gar nicht, wie brutal er zudrückt. Doch Christoph lächelt erst mal nur feinsinnig. Und dann sagt er: Der wollte sich Respekt verschaffen bei dir. - Mir den Schneid abkaufen? - Er wollte es dir zeigen. - Was? - Wie viel Kraft er hat.