Samstag, 18. Juni 2011

Feigling

Menschenscheu war gestern. Selbst, wenn ich so weiter machen wollte, heute würde es mir nicht gelingen. Denn heute sind alle so kommunikativ. Und die hässlichen Menschen sind alle zu Hause geblieben, sitzen hinter ihren zugezogenen weißen Vorhängen und grämen sich. Insiderwitz.

Im Hallenbad am Heidelberger Platz wurden vor drei Wochen bei einer Routinekontrolle Legionellen in der Männerdusche entdeckt. Seither sind nur noch vier Warmduschen in Betrieb, mit Duschköpfen versehen, die mit Ultrafiltermembranen ausgestattet sind. Inzwischen sind auch die Kaltduschen abgestellt, was bei den sich um die Warmduschen drängenden Badegästen heute Morgen Verwunderung ausgelöst hat, denn Legionellen gedeihen nur bei Wärme. Ist doch so, oder? – Natürlich ist das so. - An den vorhergehenden Tagen war das Bad geschlossen. Desinfektionsmaßnahmen, nachdem bei einer  Prüfung vor vier Tagen wieder Legionellen gefunden worden waren, - Ich muss es anders erzählen. Samstags öffnet das Bad erst um 7 Uhr. Kurz nach 7 treffe ich ein und es kommt mir ein alter Herr entgegen, der das Gebäude eilig verlässt.  – Badehose vergessen zu Hause? Oder ist ihm übel geworden? Oder ist er schon durch? Öffnen Sie jetzt Samstags früher? frage ich den Mann an der Kasse. – Tun sie nicht. Aufklärung beim Ausziehen in der Umkleide, wo ich ein Gespräch belausche, das einen Kabinengang weiter geführt wird. Es geht um den Legionellenbefall, der nach neuesten Erkenntnissen immer noch besteht. Und als der Augustin (Name erfunden) das gehört hat, da hat er sich sofort wieder angezogen und ist geflüchtet.  - Jetzt ist das auch geklärt, denke ich zufrieden. Dann denke ich noch, Feigling (Witz), und als ich die Halle betrete, freue ich mich, dass es noch mehr Feiglinge zu geben scheint. Denn heute war es im Becken so wie es immer sein sollte. Platz genug für alle. Und das waren nicht so viele.

Gleichmut
Dabei hätte ich allen Grund, mich auch zu fürchten, da ich mich seit letzter Woche unerklärlich schlapp fühle. Körperlich träge, geistig matt. Kein Antrieb. Kein Mumm. Ich kann alles machen, was ich will, aber mir fehlt der Schub, sage ich zu einem anderen Mann, den ich treffe, als ich zwei Tüten schleppend vom Einkaufen zurück komme. Er sagt, dass es ihm genauso geht. Auch seit ungefähr vierzehn Tagen. In dem Moment kommt eine gern gesehene Frau hinzu (Anonymisierung der Leute, die bei mir im Haus wohnen). Ich begrüße sie und erkläre, dass vor ihr zwei schlaffe Männer stehen. Darauf sie: Ihr Mann fühlt sich auch schwach, und das weitere Gespräch ergibt, auch ungefähr seit vierzehn Tagen. – Das ist gut zu hören, dass nicht nur ich angeschlagen bin. Andererseits ist es rätselhaft und Rätsel mag ich nicht. Bis jetzt hatte ich nämlich geglaubt, ich müsste einfach nur meinen Zigarettenverbrauch einschränken und heute wollte ich damit beginnen. Aber die beiden anderen Männer sind Nichtraucher. Und da mitten im Juni von Frühjahrsmüdigkeit keine Rede mehr sein kann, kommt als laienhafte Erklärung für unsere Schwäche nur in Frage: Irgendein Virus. Oder EHEC?! Inzwischen sogar nachgewiesen in einem hessischen Gewässer (Bach). Kein Virus, ein Bakterium. Das durchseucht jetzt gerade sukzessive die gesamte Population und wir drei Männer sind in der glücklichen Lage, dass die Infektion bei uns nur einen milden Verlauf nimmt und sich nicht äußert in einer Darmproblematik, sondern nur mit unerklärlicher Schlappheit und bei mir dazu noch mit einem für mich untypischen Gleichmut, der dazu führt, dass ich mir weiter keine Gedanken mache, sondern nur laienhaft rumspinne und diesen langweiligen Text schreibe. Denn wie gesagt, ich kann alles machen, was ich will, es fehlt mir nur der Schub.  

Kinderreichtum
Als ich mich dem Kaiser-Kiosk nähere, überlege ich, was ich auf Hilas Frage, wie es mir geht, antworten werde. Da das körperliche Befinden schon besprochen ist, will ich mich zum Allgemeinzustand äußern und sage: Gar nicht so schlecht. Betone dabei das so und füge hinzu: Aber es fehlt etwas. – Zigaretten? fragt sie verschmitzt. Obwohl ich ihren kleinen Humor mag, lache ich nicht und sage, was fehlt: Begeisterung. Freude auf etwas. Was sonst noch fehlt, verschweige ich; denn dazu kennen wir uns nicht gut genug. – Sie versteht auch so, was ich meine, und ich frage sie nun, wie es ihr geht. - Mir tut heute alles weh, antwortet sie und in dem Moment ist ihr das auch anzusehen. Dieser Eindruck verliert sich allerdings schnell, als wir auf ihre Familie zu sprechen kommen, nachdem ich sie gefragt habe, ob sie am Abend wieder mit ihren Schwester ausgehen wird (nein, sie wird den Neffen besuchen, der heute Geburtstag hat) und mich neugierig erkundige, wie viele Schwestern sie hat. – Mit ihr zusammen sind sie sechs Schwestern und dann gibt es noch einen Bruder. Der ist das jüngste der sieben Kinder. 12 Jahre alt. - Gehätschelt und verwöhnt von den Schwestern wahrscheinlich. – Er ist der Prinz, wird es auch immer sein, und er wird immer frecher, sagt Hila stolz. – Das wievielte Kind ist sie? – Die zweitjüngste Tochter. – Ohne dass ich sie danach gefragt habe, erklärt sie mir nun, wie es zu dem Kinderreichtum ihrer Familie gekommen ist. In türkischen Familien, sagt sie, gilt es als Makel, wenn ein Paar es nicht schafft, einen Sohn zu bekommen. - Verstehe. Da haben Ihre Eltern so lange weiter gemacht mit dem Kinderkriegen, bis endlich der gewünschte Sohn kam. - Die arme Mutter. Die hatte nämlich, wie Hila erzählt, nicht mehr als zwei Kinder haben wollen. Und dann kamen die Töchter. Als vorletzte Hila. Gut, dass es so lange gedauert hat mit dem Sohn.