Samstag, 30. April 2011
Erschüttert
Innerlich verstockt bin ich heute. Daher kommt es auch, dass ich mich dazu nicht weiter äußern will. Dass ich auf dem Weg zu Kaiser´s am Nollendorfplatz mir wünsche, dass etwas passieren möge, damit ich heute nicht über die Folgen der Verstocktheit schreiben muss, weil sonst nichts gewesen ist. Da nichts passiert, überlege ich, was passieren soll, was passieren könnte – was kann mir schon passieren? – Entweder, dass ich eine Idee habe, die mich mitreißt, oder jemanden treffe, der – ja was? – mich überrascht. Ist es das? Mich überrascht? überlege ich, während ich die durch die Goltz gehe auf der sonnigen Seite der Straße und nun vor mir sehe ein kleines Mädchen mit roten Haaren und einem roten Rucksack. Ein Kind unterwegs von einem Elternteil zum anderen Elternteil, um dort das Wochenende zu verbringen? Das ist allerdings eine Erscheinung des späten Freitagnachmittags oder frühen Freitagabends, nicht des frühen Samstagnachmittags: Kinder, die zwischen den getrennten Elternteilen unterwegs sind mit Rucksäcken mit Kleidern zum Wechseln drin für zwei Tage und was ein Kind so hat an persönlichen Sachen. Und sie sind dann auch unterwegs mit ihren Vätern. Das Kind mit dem roten Rucksack ist jedoch in Begleitung einer Frau, und als ich die beiden überhole und zu der Frau hingucke, ist das Bettina und das Kind ist das Kind, das ich kenne von Schwangerschaft an und trotzdem weiß ich nicht, wie das Kind heißt, weil sein Name so ungewöhnlich ist, und ich mich jedes Mal scheue zu fragen, denn ich müsste es eigentlich wissen. Zweimal spricht Bettina das Kind an mit Namen, während wir nebeneinander hergehen und uns unterhalten. Doch ich kann noch so sehr die Ohren spitzen, ich kriege den Namen nicht richtig mit. Gesa, höre ich, aber das ist er nicht, das weiß ich, und jetzt frage ich mal. – Veza, sprich: wesa, ist der Name und Bettina sagt mir auch gleich, wie man ihn schreibt und woher er kommt. Das weiß ich noch, von einer Schriftstellerin, die Bettina und Guido viel bedeutet, jedoch nicht so bekannt ist. Veza hieß die erste Frau von Elias Canetti, die nach Ansicht von Bettina schriftstellerisch bedeutender war als Canetti, den sie nicht so wichtig findet (ich auch nicht). – Der rote Rucksack des Kindes ist ein Schulrucksack. Den haben die beiden gerade gekauft. Geburtstagsgeschenk. Veza ist heute sechs Jahre alt geworden. Und deshalb ist Guido nicht dabei; er kauft ein für die Party morgen. Herzlichen Glückwünsch, Veza! – Dankeschön, antwortet sie zierlich. Die Drei sind gerade aus Israel zurück, wo Bettina zwei Monate als Gastprofessorin gelehrt hat. - In Tel Aviv? – In Jerusalem. In Tel Aviv gibt es keine deutsche Abteilung. – Deutsche Abteilung? In Politikwissenschaft? – In Literaturwissenschaft. – Du bist Literaturwissenschaftlerin? frage ich so verblüfft, dass Bettina, die eine der unaffigsten Personen weit und breit ist, nun nicht anders kann, als zu sagen: Ja, ab und zu lese ich einen Roman und spreche mit Studenten darüber. - Weißt du, dass ich, seit wir uns kennen, fest davon überzeugt bin, dass du Politikwissenschaftlerin bist und so auch immer mit dir geredet habe? Zum Beispiel einmal einen Rüffel von dir wegen einer These über latenten chronischen Faschismus widerspruchslos eingesteckt habe wegen der politikwissenschaftlichen Autorität, als die ich dich betrachtet habe? – Bettina ist amüsiert und ich bin baff. - Da habe ich sie jetzt, meine Überraschung. Das Wünschen hat geholfen und gelernt habe ich gleich auch noch was: Das Kind heißt Veza. Bettina ist Literaturwissenschaftlerin. Und ich sollte mal auf meine festen Überzeugungen achtgeben. Vielleicht kann ich da noch ganz andere Überraschungen erleben.