Samstag, 9. April 2011

Aufmerksam

Frühling Tag 20. Eine Frau, über deren sexuelle Vorlieben ich informiert bin, als wäre ich schon mal dabei gewesen (ich übertreibe), sitzt vor der Feinbäckerei an einem Tisch mit drei Männern und grüßt mich freundlich, nachdem sie mich jahrelang nicht gegrüßt hat. Ganz zu Anfang unserer entfernten Bekanntschaft haben wir uns freundlich gegrüßt, dann hat sie nicht mehr zurückgegrüßt. Bis ich sie auch nicht mehr gegrüßt habe. Ohne mir vorstellen zu können, was gegen mich vorlag und so schwerwiegend war, dass sie unsere Grußbekanntschaft beendet hatte. Genauso wenig, wie ich mir nun erklären kann, weshalb sie auf einmal wieder grüßt, nachdem wir uns so lange nicht mehr gesehen haben, dass ich mir einen Augenblick lang unschlüssig war, woher ich sie kenne. Aus dem Kneipenleben, aus dem ich auch den Mann kenne, der sich anerkennend über ihre sexuellen Vorlieben ausgesprochen hat. Kann sein, dass es das nächste Mal, wenn wir uns sehen, schon wieder vorbei sein wird mit dem Grüßen, wenn sie das hier liest und sich gemeint fühlt. Daran wird sich zeigen, ob sie Format hat. Das mit dem Format ist ein Witz.

Mit einer Frau, die mir wegen ihrer stromlinienförmigen schwarzen Badekappe schon seit Jahren auffällt, habe ich vor ein paar Wochen zum ersten Mal kurz am Beckenrand gesprochen. Von da an haben wir uns jedes Mal, wenn wir uns im Wasser oder in der Garderobe begegnet sind, zugelächelt und zugenickt. Die letzten beiden Male hat sie ein verschlossenes Gesicht gemacht und meinen Gruß so verhalten erwidert, dass ich hinterher beim Verlassen der Garderobe zum Kassierer gesagt habe: Das ist für mich eines der großen Geheimnisse des Lebens, warum Leute, die einem bisher immer freundlich begegnet sind, es plötzlich nicht mehr tun, ohne dass es dafür einen erkennbaren Grund gibt. – Vielleicht jemand gestorben, sagte der Kassierer darauf, ohne eine Miene zu verziehen. Und nachdem ich aufgehört hatte zu lachen über seine Antwort, hat er mir erzählt, dass sein Onkel in Hamburg vor zwei Wochen tot in seiner Wohnung gelegen hat, und dass er, der Kassierer, nun die vom Onkel gewünschte Seebestattung organisieren wird. Danach habe ich mir erklären lassen, wie das im Einzelnen abläuft bei einer Seebestattung, und währenddessen kam die Frau, die beim Schwimmen eine stromlinienförmige Badekappe trägt, an uns vorbei und hat wieder ein verschlossenes Gesicht gemacht zu mir her.

Der Jura-Professor schreibt ein juristisches Fachbuch nach dem anderen und ich kann mir nicht erklären, wie er das schafft, weil er nämlich immer, wenn wir uns treffen, gerade aus Brasilien kommt oder aus Argentinien oder Japan oder aus einem afrikanischen Land und dort ein paar Monate gelehrt hat. Heute habe ich ihn vor Reichelt an der Rolltreppe getroffen mit seiner jungen Frau. Ich habe gesagt, dass ich dieses Mal schon weiß, von woher er gerade zurückgekommen ist, da ich vor zwei Tagen seine Frau getroffen habe und sie mir schon alles erzählt hat. – Dann ist ja schon alles gesagt für heute, hat er geantwortet mit seinem kleinen trockenen Humor. Darauf habe ich über die sich hinziehenden Bauarbeiten im Stadtbad Schöneberg in der Hauptstraße gesprochen, wo wir miteinander bekannt geworden sind und uns im Schwimmbecken jedes Mal mit einem solchen förmlichen Zunicken zu begrüßen pflegten, dass nicht viel fehlte, dass wir aufeinander zugeschwommen wären und uns die Hand gegeben hätten. Ich habe erzählt, dass ein mir auch vom Schwimmen bekannter Architekt erklärt hat, dass es aufwendiger ist und deshalb länger dauert, in ein bestehendes Gebäude hineinzubauen als ein neues zu errichten. Worauf der Jura-Professor meinte, das sei ja nun hinlänglich bekannt. Da das eine Art von brüsker Bemerkung war, wie ich sie auch jederzeit machen könnte, habe ich ihm das nicht übel genommen. Habe dann allerdings festgestellt, dass dieser Sachverhalt, so bekannt er sein mag, nun mal eine Erklärung für das Sichhinziehen der Bauarbeiten im Stadtbad Schöneberg ist. Wogegen er nichts einwenden konnte. Auch wenn er es gerne getan hätte, denn er war, glaube ich, schon etwas angefressen von meinem Eröffnungssatz, mit dem ich ihn von seinem Lieblingsthema abgehalten habe.

Vorher im Supermarkt hatte ich an der Kasse gestanden und es ging nicht voran. Da kam ein kleiner Junge her und sagte: Sie können auch an die Kasse nebenan gehen. Die ist geöffnet. – Das hatte ich nicht bemerkt, weil dort keine Warteschlange war. Der Junge ging darauf zurück zu der Kasse, wo die Kassiererin, die vorher kurz weg gegangen war, gerade wieder Platz nahm. – Du bist ja freundlich und aufmerksam, habe ich gesagt, als ich mich hinter dem Jungen anstellte, der schon mit dem Einpacken seiner Einkäufe beschäftigt war und keine Notiz mehr von mir nahm. Inzwischen war die Frau, die an der anderen Kasse vor mir gestanden hatte, auch hergekommen, und da ich mich gar nicht einkriegen konnte wegen der Freundlichkeit des Jungen, das bei ihm aber nicht loswerden konnte, sagte ich zu der Frau auf den Jungen deutend: Das haben wir ihm zu verdanken. – Sie nickte anerkennend, und als ich mit meinem Korb an ihr vorbei gehen wollte, um ihn auf den Korbstapel zu stellen, da nahm sie ihn mir ab und machte das für mich. Das Leben war so, wie es immer sein sollte. Kurz darauf habe ich den Jungen noch mal gesehen. Vor der Back-Factory. Er trug einen Fahrradhelm und sagte Tschüss zu mir, bevor er mit seinem Fahrrad losgefahren ist. Wie alt mag er sein? 12 Jahre wahrscheinlich. Als ich mir dann überlegt habe, warum ich mich so gefreut habe über das Verhalten des Jungen, da kam ich schließlich darauf, dass es sein könnte, dass ich auch einmal wie dieser Junge gewesen bin.