Montag, 11. April 2011

Griesgram

Alles gut? frage ich den Kassierer des Hallenbades, während ich mein Eintrittsgeld zusammensuche. – Sehr gut, antwortet er sinngemäß und freut sich offenbar mich zu sehen. – Und sportlich? – Mit meinem Arm geht es langsam wieder besser, sagt er und meint das als Witz. Denn er weiß schon, dass ich mit ihm über die neueste Entwicklung beim FC Bayern München sprechen will, dessen Fan er ist, dessen Fan ich auch jahrzehntelang war, aber inzwischen überlege mich mir, ob ich das mal ruhen lassen soll. Nicht, weil sie nächste Saison statt Champions League in der deprimierenden Europaliga spielen werden – ein wahrer Fan ist es auch dann noch, wenn es mal schlecht läuft. Da sind sich der Kassierer und ich einig. Nein, es ist wegen der unsympathischen Charakteraufführung des Präsidenten von Bayern München. Gleich, was fußballerisch richtig oder falsch war, es ist doch offensichtlich, dass der Präsident Hoeneß mit dem Rauswurf des holländischen Trainers fünf Spieltage vor Saisonende eine offene Rechnung beglichen hat, weil er sich von dem Größenwahn des van Gaal in seinem eigenen Größenwahn gekränkt gefühlt hat. Dem Kassierer geht es so gut, dass ihm das alles herzlich egal ist, und ich merke bei diesem ersten Dialog des Tages, dass ich aufpassen muss, weil ich scheine heute nicht der Hellste zu sein. In der Garderobe kommt mir der Griesgram entgegen. Er zieht eine dieser fahrbaren Kleiderbügelvorrichtungen hinter sich her, die es im Hallenbad am Sachsendamm gibt, damit man damit den Weg von der Umkleidekabine zum Spind zurücklegen kann. Er geht gerade vom Spind zur Umkleidekabine, trägt seine nasse Badehose und hat seinen Fahrradhelm auf dem Kopf. Das ist ein Bild, das habe ich schon oft gesehen, aber es bringt mich immer wieder zum Feixen. Der bis auf die Badehose nackte Mann, und dann Fahrradhelm auf. Klar, um die Hände frei zu haben. Trotzdem. Ich feixe und sage: Du siehst ja wieder aus!– Er grummelt darauf etwas, das ich nicht verstehe und dann ist da auch schon der lachende Mann mit seiner Entourage. Die drei Männer feixen auch wegen des Anblicks der Griesgrams. Abschließend zum Feixen stellt der lachende Mann fest: Nackt sind wir alle gleich. Obwohl ich gerade nicht der Hellste bin, werde ich spitzfindig im Sinne von: politisch ja, aber sonst? – Der lachende Mann präzisiert: Vor Gott sind wir alle gleich. – Ich lenke ein: Vor dem Tod sind wir alle gleich. – Der lachende Mann, hoch in den 70ern, will vom Tod nichts hören, sagt er und verweist darauf, dass das in der Bibel steht, dass wir vor Gott alle gleich sind. Das hat ihm seine Mutter vorgelesen aus der Bibel, als er noch ein Junge war. – Das ist eine schöne Vorstellung, dass die Mutter des lachenden Mannes ihm aus der Bibel vorgelesen hat, denke ich, während ich mich ausziehe und meine Sachen in den Spind hänge. Danach nehme ich mir vor, gegenüber alten Menschen nicht mehr so achtlos vom Tod zu reden. Denn so lange ist das bei mir auch nicht mehr hin, dass ich in einem Alter sein werde, in dem ich nicht unnötigerweise an den Tod erinnert werden möchte.

Der Griesgram ist auch schon in den 70ern, den frühen 70ern, und er ist von einem Hauttyp, der nicht anders denn als leichenblass bezeichnet werden kann. Sonst sieht man ihm sein Alter nicht an. Er ist drahtig und mit seinem Gesicht könnte er als Anfang 60 durchgehen. Er äußert sich stets mürrisch und abweisend; unmöglich, etwas zu sagen, dem er nicht widerspricht. Zu Anfang unserer Bekanntschaft habe ich mich noch darüber lustig gemacht, inzwischen habe ich großen Respekt vor seiner Griesgrämigkeit. Wegen der Konsequenz, mit der er sie auslebt, und weil sie ihn nicht daran hindert, auf seine Art freundlich und vergnügt zu sein. Im Winter musste er sich einer Prostataoperation unterziehen, wie er mir mal unter der Dusche erzählt hat. Danach habe er wie ein kleines Kind erst wieder lernen müssen, seine Blase zu kontrollieren, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. Ich habe darauf unwillkürlich auf sein blasses Genital geschaut und war erstaunt zu erfahren, dass man nach einer Prostataoperation nicht irreversibel inkontinent ist. Wenn man, wie der Griesgram, das Glück hatte mit computergesteuerter Laserchirurgie operiert zu werden. Ob seine Potenz dank Hightech die Operation auch unbeschadet überstanden hat, hätte ich gerne noch gefragt, habe es jedoch lieber gelassen. Denn obwohl wir uns seit Jahren in verschiedenen Hallenbädern treffen – gewissermaßen Sportkameraden sind –, legt er Wert darauf, dass wir uns siezen. Heute Früh habe ich ihn unwillkürlich geduzt, wie mir nachträglich erst aufgefallen ist. Da habe ich mir überlegt, dass ich dabei bleiben könnte, um mal auszuprobieren, wie er darauf reagiert. Kleines soziales Experiment. Ich werde darüber berichten.

Beim Verlassen des Hallenbades habe ich den Kassierer mit einem anderen Mann im Gespräch gesehen. Ich habe ihm zugewinkt und Tschüss gerufen. Er hat sich mir mit ernster Miene zugewandt und förmlich Auf Wiedersehen gesagt. Er, der sonst immer ein Lächeln für mich hat und eineinhalb Stunden zuvor noch mit mir gewitzelt hatte. Lag es an dem Gespräch, das er gerade führte? Oder liegt etwas gegen mich vor? In der Zwischenzeit hatte ich mir kein Fehlverhalten zuschulden kommen lassen. Aber vorher? In den letzten Tagen? – Das ist nun entweder mal wieder ein Fall von meiner Hypersensibilität, hat also nichts zu bedeuten, oder es ist interessant. Ich habe einen Verdacht. Dem werde ich nachgehen und auch darüber werde ich berichten.