Dienstag, 19. April 2011

Nein

Interview mit einem Bücherstapel. Der hat auf der Treppe vor einer Haustür gelegen: zum Mitnehmen. Ich bin stehen geblieben und habe mir die Bücher angeschaut. Fünf Bücher. Alles Lebenshilfebücher. Weitergegangen. Zurückgekommen, um die Titel der Bücher meinem Diktiergerät vorzulesen. Weitergegangen und dann noch mal zurück, um die Bücher mitzunehmen und ein Interview mit ihnen zu machen. Wer hat euch gelesen? Was ist das für eine Person? Was hat sie in euch gesucht und gefunden? – Oben auf dem Stapel liegt ein dtv-Taschenbuch: Peter Schellenbaum, Das Nein in der Liebe, 4. Auflage Juni 1987. Das bringt mich zu der Annahme, dass die Bücher einer Frau gehört haben. Die wird unterstützt durch zwei andere Titel, Paperbacks: Shere Hite / Kate Colleran, Keinen Mann um jeden Preis, März 1992. Und Colette Dowling, Perfekte Frauen. Die Flucht in die Selbstdarstellung. Deutsche Erstausgabe 1989. Diese beiden Bücher sind sichtbar gelesen, enthalten jedoch keine Unterstreichungen. Gelesen wurde auch das Paperback: Wolfgang Schmidbauer, Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe, 1. Auflage 1977. Die Erscheinungsdaten zeigen eine Frau, die nicht mehr jung ist. Sie arbeitet wahrscheinlich in einem helfenden Beruf, sie ist Krankenschwester oder Masseurin, Psychologin oder Fachärztin. Es könnte allerdings auch sein, dass sie die Hilflosigkeit der Helfer aus Patienten-Perspektive erlebt hat. Die Frau kann Englisch, sonst hätte sie sich das fünfte Buch nicht gekauft: Muriel James/Dorothy Jongeward, Born To Win. Transactional Analysis with Gestalt Experiments, erschienen 1978. Taschenbuch, ungelesen. Trotzdem erzählt das Buch etwas von seiner Besitzerin. Sie hat sich für Transaktionale Analyse interessiert. Aber wer hat sich in den 70er Jahren nicht für Psychotherapie interessiert? Ich zum Beispiel. Ich habe in meinem Leben auch nur zwei Lebenshilfebücher gelesen: Dale Carnegie, Sorge dich nicht – lebe! Der Titel hat mich angesprochen, weil ich mir immer so viele Sorgen mache. Das mit den Zitronen, aus denen man Zitronenlimonade machen soll, ist ein sehr guter Rat. Doch intuitiv war mir das immer schon klar. Und ich sorge mich immer noch. Das andere Lebenshilfebuch hätte ich mir auch sparen können: Werner Tiki Küstenmacher, Simplify Your Life. Beim Lesen ist mir nämlich klar geworden, wie weit ich mein Leben schon vereinfacht hatte und dass noch mehr Vereinfachung zu viel wäre.  – Zurück zum Interview, obwohl ich zugeben muss, dass es mich langweilt. Die Frau besaß, bevor sie die fünf Bücher aussortiert hat, mindestens drei Lebenshilfebücher mehr als ich. Das ungelesene Buch beiseite gelassen sind es Allerwelts-Bücher. Welche Helferin fühlt sich nicht manchmal hilflos? Wer hat es nicht manchmal satt, attraktiv erscheinen zu sollen? Und dass eine Frau sich von Männern nicht alles gefallen lassen will, ist nun wirklich einleuchtend, denn das ist umgekehrt nicht anders. Bleibt Das Nein in der Liebe. Auf der Innenseite des Umschlags steht handschriftlich mit schwarzem Kugelschreiber geschrieben etwas Gereimtes: Der Augenblick / Es war einmal ein Augenblick / der guckte unverfänglich / jetzt hat er lebenslänglich. Darunter steht: Fabel aus Hansens Haus und darunter eine zierliche Zeichnung eines Hauses mit qualmendem Schornstein und einer Hecke. – Die Handschrift ist eine Männerhandschrift. Auf der zweiten Seite ist ein Sticker eingeklebt: Ach, meine Liebste, Du steht auf dem Sticker und darunter ein dickes rotes Fragezeichen. – Eingeklebt, als der Mann mit dem schwarzen Kugelschreiber der Frau das Buch geschenkt hat? Dann allerdings nicht als neues Buch geschenkt; er hatte es bereits gelesen. Mit großer Zustimmung, wie die zahlreichen Kugelschreiber-Unterstreichungen zeigen und die Anmerkungen, die er gemacht hat. Vielleicht hat er die Anmerkungen sogar gemacht, damit die Frau sie später sieht. In seinen Anmerkungen nimmt er Bezug auf drei Personen: Karin und Bernd, die offenbar ein Paar sind, sowie auf Rainer und an einer Stelle auf Kurt Seitz jun. Zum Beispiel hat er unter die Kapitelüberschrift Die Selbstzerstörung des Stärkeren notiert: Kurt Seitz jun.Bernd + auch Karin. An zwei Stellen gibt es mit Bleistift geschriebene Anmerkungen in einer anderen Handschrift. Bauchige Buchstaben, Frauenhandschrift. Die Frau, die in den anderen drei von ihr gelesenen Büchern keine Anmerkungen gemacht hat, hier hat sie quer neben einen Absatz geschrieben: Schellenbaum ist toll!  (Schellenbaum ist der Autor). Und dann hat sie noch um die Kapitelüberschrift Abgrenzung ein Herz gemalt und daneben angemerkt: tut so weh! - Ja. Und genug. Denn jetzt komme ich mir wie ein Voyeur vor und schäme mich. Jetzt habe ich mehr von ihr gesehen, als ich sehen wollte.