Montag, 4. April 2011

Abwechslung

Am Nachmittag ein weiter Weg. Alle möglichen Leute gesehen und viel erlebt, aber keine Geschichte. Weil ich mit den Gedanken woanders war. Wo, verrate ich nicht. – Einmal habe ich laut lachen müssen. Das war in der Winterfeldstraße. Als ein Mädchen, elf oder zwölf Jahre altes Mädchen, mit dem Kinderwagen, den es schob, beinahe mit einem Werbeaufsteller zusammengestoßen ist, der ohne Vorwarnung auf dem Bürgersteig stand. Keine Ahnung, was daran zum Lachen war. Ich habe mich dann auch gleich umgedreht und das Mädchen um Verzeihung gebeten dafür, dass ich gelacht hatte. Darauf hat das Mädchen abgewinkt. Macht nichts, meinte es. Ich habe ja zum Glück noch rechtzeitig bremsen können. – Aber das Kind ist jetzt aufgewacht von dem Ruck, sage ich besorgt, zugegeben übertrieben besorgt, weil ich mit dem Mädchen ins Gespräch kommen will (Interview?). Ich  verlangsame meine Schritte, bis mich das Mädchen mit dem Kinderwagen eingeholt hat, und jetzt sehe ich, dass der Kopf des Kindes zur Seite gesunken ist und seine Augen geschlossen sind. – Ach, es schläft ja immer noch, sage ich. – Mädchen: Nein, nein, sie schläft nicht. Sie hat geschlafen, als ich sie im Kindergarten abgeholt habe. Und jetzt ist sie immer noch müde. – Ich betrachte das Kind mit seinen dicken Backen und der tief in die Stirn gezogenen Wollmütze noch mal genauer. Sein Kopf ist zur Seite gesunken. Es hat die Augen geschlossen. So wie ich das sehe, schläft es. Aber die große Schwester wird es schließlich wissen. Wenn sie es sagt, dann ist es nur schläfrig, aber es schläft nicht. – Mädchen: Ich habe einfach nicht aufgepasst, weil ich zur Seite geguckt habe. – Ich: Zu mir? – Mädchen: Ja. – Ich: Dann bin ich also schuld? – Mädchen: Nein, nein, Sie waren nicht schuld. – Ich war nur der Auslöser. - Mädchen: Ja. – Ich hätte jetzt sagen können, dass wenn jemand schuld war, dann derjenige, der den Werbeaufsteller auf den Bürgersteig gestellt hat. Ich hätte mich auch gerne noch weiter unterhalten. Alleine schon, weil es eine Abwechslung war, neben dem Mädchen und dem Kinderwagen herzugehen. Aber deswegen einen Blödsinn daher reden, das wollte ich auch nicht, und schweigend neben dem Mädchen und dem Kinderwagen herzugehen, wäre merkwürdig gewesen. – Dann macht es noch gut, ihr beiden, sage ich und beschleunige meine Schritte. - Und Sie, machen Sie es auch gut, ruft mir das Mädchen hinterher. –  Später habe ich mir vorzustellen versucht, was für ein Leben das Mädchen hat: Nach der Schule die kleine Schwester vom Kindergarten abholen. Sie versorgen und beaufsichtigen, bis ihre Mutter von der Arbeit kommt. Der Kinderwagen sah alt und ärmlich aus. Die weiße Wollmütze des Kindes war verwaschen und angegraut. Vielleicht hat das Mädchen schon in dem Kinderwagen gelegen und hatte die Wollmütze auf, die damals noch strahlend weiß war. Oder ist das Mädchen gar nicht die Schwester des Kindes? Ist es der Babysitter? Das ist ein Job, den es macht nach der Schule, das Kind abzuholen vom Kindergarten und es zu beaufsichtigen? Aber können sich Eltern mit so einem alten, ärmlichen Kinderwagen einen Babysitter leisten? Und warum habe ich das Mädchen nicht gefragt, ob das Kind seine Schwester ist? - Weil es mir nicht eingefallen ist, und es ist mir nicht eingefallen ist, weil es unwichtig ist. Weil es nur darum ging, dass das Mädchen beinahe mit dem Kinderwagen den Werbeaufsteller umgefahren hat, ich darüber gelacht habe und wir uns sympathisch waren.