Mittwoch, 20. April 2011

Durcheinander

Die polnische Schneiderin in der Eisenacherstraße sagt, sie will 15 Euro für das Einnähen eines Stoffstücks in meine Jeans, um den durchgewetzten Hosenboden zu verstärken. Ich sage, mehr als 10 Euro zahle ich dafür nicht. Ich hätte auch 13 Euro oder 13 Euro 50 bezahlt. Aber sie will nicht mit mir handeln. In drei Wochen geht sie in den Ruhestand. Sie ist mir mehr als 12 Jahre lang mit dem Preis entgegengekommen, sagt sie. Jetzt nicht mehr, das sagt sie nicht, aber so ist es. Am meisten ärgere ich mich darüber, dass sie nicht bereit ist, mit mir zu handeln. Ich wünsche ihr alles Gute und gehe zu der Änderungsschneiderei in der Hauptstraße. Kroatisches Ehepaar. Preis 14 Euro. Nicht verhandelbar. Das ist immerhin ein Euro weniger als bei der Kollegin. Ich sage, wenn ich niemanden finde, der es mir billiger macht, komme ich wieder. Der Mann sagt: Sie werden vielleicht jemanden finden, der es ihnen für fünf Euro macht, aber dann ist es auch so gemacht. Ich weiß, was er meint, und als ich den Laden verlasse, fängt die Aktion an, mir Spaß zu machen. Als nächstes werde ich in die türkische Änderungsschneiderei Hauptstraße/Ecke Vorbergstraße gehen. Doch vorher muss ich noch kurz zu Reichelt. In der Passage treffe ich Roland und habe mit ihm ein Palaver über das Hosenboden/Preis-Thema, das zu keinen neuen Einsichten führt, nur zu der Feststellung, was für ein schönes Wort Hosenboden ist. Nachdem wir uns verabschiedet haben, gehe ich zur Rolltreppe. Eine junge Frau kommt mir entgegen, die ganz in Dunkelblau gekleidet ist. Sie hat kurze dunkle Haare und ein blasses Gesicht, das mir bekannt vorkommt. Als sie an mir vorübergeht, schaut sie mich ernst an. Ich schaue ernst zurück und frage mich: Ist sie das? – Ich schaue ihr hinterher: War sie das? - Sie hat nicht gelächelt. Sie hat nicht zu erkennen gegeben, dass wir seit mehr als zwei Jahren auf eine merkwürdige Art miteinander zu tun haben. Ich habe sie erst auf den zweiten Blick erkannt. Ich habe nicht gelächelt. Ich bin ihr nicht hinterher gegangen. Es war so wie es immer gewesen ist, wenn wir uns begegnen. Ich kann es mir nicht erklären, warum es so ist. Danach bin ich mir sicher, dass sie es war, und bin verwirrt, wie ich immer verwirrt bin nach Begegnungen mit ihr. Es wird nicht besser dadurch, dass ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Ich kaufe bei Reichelt ein, habe im Tabakwarenladen mit der jungen türkischen Frau einen Dialog darüber, dass ab 1. Mai die Zigaretten 20 Cent teurer werden, und stehe anschließend bei der türkischen Änderungsschneiderei vor der verschlossenen Tür. Vielleicht ist der Schneider mal kurz um die Ecke gegangen. Ich hole mir bei Videoworld Danis Film, Das Leben ist zu lang, und gehe dann noch mal zurück zum türkischen Schneider. Immer noch geschlossen. Auf der Akazienstraße herzliche Begrüßungsszene mit dem Obst- und Gemüsehändler. Er erzählt, dass er im Libanon war und sich die Zähne hat machen lassen – und dass er geheiratet hat. – Eine Frau? frage ich. – Ja, sagt er und hält meine Frage für eine Albernheit. – Darauf sage ich ihm, dass ich ihn immer für schwul gehalten habe – und im gleichen Moment merke ich, dass ich dass zu einem Libanesen nicht sagen kann. – Ich bitte niemals um Entschuldigung; ich vermeide es etwas zu tun, wofür ich hinterher um Entschuldigung bitten muss, und zu dem, was ich getan habe, stehe ich. Jetzt bitte ich dreimal hintereinander um Entschuldigung: Das hätte ich nicht sagen sollen. Das hätte ich wissen müssen, dass ich das zu einem Mann wie dir nicht sagen darf, wiederhole ich mehrfach. Ich überschlage mich fast in dem Bemühen, die Beleidigung zurücknehmen. Für ihn war es eine Beleidigung. Es ist mir unbegreiflich, wie ich so taktlos sein konnte. Er nimmt meine Entschuldigung an. Es ist mir wichtig, dass wir uns die Hand geben. Er gibt mir seine Hand.  – In meiner Straße ein Feuerwehreinsatz. Bernd, der Raucher auf der Straße, steht dabei. Er hat die Feuerwehr gerufen. Mann im Parterre, gestern Abend hat er ihn gesehen: Er hatte den Tod im Gesicht, sagt Bernd. Heute hat sich nichts in der Wohnung gerührt. Die Schwester des Mannes hat sich auch Sorgen gemacht. Bernd und die Schwester haben beschlossen, die Feuerwehr zu rufen. Die Feuerwehrmänner öffnen mit einem gebogenen Draht das Fenster und steigen zu dritt über eine Leiter ein. Bernd erzählt, dass in dieser Wohnung schon mal ein Toter gelegen hat. 14 Tage lang. Der Gestank! Bernd wohnt auch im Parterre. Er sagt, er will das nie wieder riechen müssen. Die Feuerwehrleute, die durch das Fenster in die Wohnung eingestiegen sind, kommen zur Wohnungstür wieder heraus. Der Mann, der gestern Abend den Tod im Gesicht hatte, ist nicht da. Bernd ist konsterniert, weil er die Feuerwehr umsonst gerufen hat. Ich beruhige ihn: Lieber ein Mal zu viel als ein Mal zu wenig. Das werden die Männer von der Feuerwehr bestimmt auch so sehen. – Ich fange ein Gespräch an mit einem der Feuerwehrleute. Es kommt häufiger vor, dass sie gerufen werden und dann ist nichts. Das gehört zu ihrem Job, sagt er und fügt hinzu, dass es ihnen lieber ist, wenn nichts ist, als zum Beispiel einen Toten zu finden. – Hast du das gehört, Bernd? sage ich. – Bernd geht rein, um seinen Tabak zu holen. Zwei Mädchen, das eine vielleicht zehn, das andere vielleicht sieben, haben auf dem Bürgersteig stehend den Einsatz beobachtet. Das sieht süß aus, wie das kleinere und das größere Mädchen da stehen und fasziniert zugucken, was die Feuerwehrmänner machen. Sie stehen nicht im Weg. Und es wird auch keine Leiche herausgetragen, die sie mit ihren Kinderaugen nicht sehen sollen. Trotzdem: Als Bernd zurück kommt mit seinem Tabaksbeutel und den Zigarettenpapier in der Hand, herrscht er die Mädchen an: Geht mal weiter! – Ich sage zu den Mädchen: Er ist Lehrer. Aber jetzt hat er Ferien. Er hat euch gar nichts zu sagen. – Doch die Mädchen sind an den Lehrerton Bernds anscheinend gewöhnt und folgen ihm aufs Wort. Die Frage ist jetzt, wo der Mann hingegangen ist, der gestern Abend den Tod im Gesicht hatte. – Vielleicht zu einem Arzt? Oder ins Krankenhaus? – Nein, das macht er nicht. Der geht nicht mehr zu Ärzten, sagt die Schwester. - Vielleicht ist er in einen Park gegangen, sagt Bernd. – Und sitzt auf einer Bank und ist tot? frage ich und unterdrücke ein Lachen. Ich bin völlig durcheinander. Ich war schon vorher durcheinander.