Dümmster Tag des Jahres. Der vorläufig dümmste Tag des Jahres. Erste Anzeichen dafür gab es schon am Vormittag. Jetzt kein Zweifel mehr, als ich in der Dietrich-Bonhoeffer-Bibliothek in Wilmersdorf stehe, da ich hier nur selten bin, mich Orientierung suchend umschaue, mein Blick dabei auf die kleine Abteilung mit englischsprachiger Literatur fällt und ich denke, da könnte ich doch mal gucken, ob die hier On the Road in der neuen, erstmals vollständigen Ausgabe - The Original Scroll – haben. On the Road habe ich nämlich nicht gelesen; es hat mich nie interessiert. Einer der Gründe dafür ist, dass das eine Pflichtlektüre für Hippies war, und Hippie bin ich in meinem Leben nur drei Wochen lang gewesen. Als ich 1970 in Ferien auf Ibiza war, vier Wochen lang, und in der vierten Woche bin ich dank der intellektuellen Einflüsse, die ich im Kreis einer internationalen Trinker-Bohème aufgenommen habe, schon kein Hippie mehr gewesen, sondern zum Surrealismus konvertiert. Jetzt möchte ich On the Road gerne lesen in der neuen Ausgabe, möglichst im Original. Aber, um nachzusehen, ob das Buch vorhanden ist, muss ich den Namen des Autors kennen, und auf den komme ich nicht - nicht, weil er mir nicht geläufig ist, er ist mir so geläufig wie zum Beispiel die Namen von William Burroughs oder Truman Capote, aber in diesem Moment will er mir einfach nicht einfallen. Jede Denkanstrengung ein Griff ins Leere. Ich komme nicht ran. Dummheit ist ein Sachverhalt in der Welt. Und ich spüre gerade mal wieder, wie er sich anfühlt. Ich könnte jetzt zu dem PC gehen, der zwei Meter entfernt von mir steht, um im Katalog der Bibliothek zu suchen mit Hilfe des Titels. Aber das ist streng verboten. Wenn ein Name oder ein Begriff mir nicht einfällt, darf er nicht erfragt oder nachgeschlagen werden, ich muss selbst drauf kommen, ohne den Gebrauch von Hilfsmitteln, und wenn es Stunden dauert. Doch so viel Zeit habe ich nicht. Ich bin hier, weil es in dieser Bibliothek eine Ausgabe sämtlicher Werke von Freud gibt. Ich will mir den Band VIII ausleihen und anschließend im Geschwindschritt zurück, einkaufen gehen (die Gönnerin hat nun doch noch überwiesen) und dann nach Hause. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich gehe zum PC, tippe On the Road in die Suchmaske ein, bringe es aber nicht gleich über mich, die Enter-Taste zu drücken, um damit meine Niederlage vollkommen zu machen. In dem Moment fällt mir die berühmte abfällige Bemerkung ein, die Truman Capote einmal über den Autor gemacht hat, dessen Namen mir entfallen ist. Die Bemerkung, die übrigens der zweite Grund dafür ist, warum ich On the Road nie gelesen habe. That´s not writing, that´s typing (*), hat Truman Capote gesagt über das Buch von ... – Kerouac! – JACK KEROUAC! Jetzt ist es mir eingefallen. Mit Hilfe des Capote- Zitats. Gelungener Fall von Mnemotechnik. Einfacher gesagt: Eselsbrücke. Das ist erlaubt. Also gerade noch mal gut gegangen. Stolz bin ich darauf nicht. Dafür gewarnt: Vorsicht, dummer Tag! – Anschließend Sigmund Freud, Gesammelte Werke VIII – Werke aus den Jahren 1909 – 1913 gefunden und mitgenommen. Wegen eines Aufsatzes, in dem Freud sich am Rande über das Kneipenleben auslässt (**). Mich vorgestern daran erinnert, als ich in meinen alten Notizbüchern das Zitat von Gudrun Ensslin suchte, und beim Durchblättern gesehen habe ein Zitat aus dem genannten Freud-Aufsatz. Aber, weil ich damals offenbar zu faul war beim Rausschreiben, habe ich die Stelle weggelassen, die ich als die wichtigste, nämlich auch die amüsanteste in Erinnerung habe. Daher jetzt den Aufsatz mir beschafft. Zum Nachlesen und: vielleicht kann ich was damit anfangen, wenn ich über den Bürger Großkotz schreibe. Den Großkotz, der eine Kneipenexistenz ist. Weil er das ist, heute allerdings auch schon mal gedacht, lieber nichts zu machen über ihn. Denn der hat es auch so schon schwer genug, da muss er nicht auch noch von mir beschrieben werden. Auf dem Rückweg von der Bibliothek dann wieder anders gedacht. Dann schreibe ich eben freundlich über ihn. Über so einen Großkotz? – Unmöglich, das heute zu entscheiden. Ich habe es erklärt warum. Vorsicht, Dummheit!
(*) Er schreibt nicht, er tippt. Oder freier übersetzt, und so ist es gemeint: Das ist keine Schriftstellerei, das ist Schreibmaschinenschreiben.
(**) Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia
Schicksenplot 3. – Letzter Teil morgen.