Frühling Tag 7. Wäre es nach mir gegangen, hätte der schöne Mann, der aussieht wie Georges Moustaki in seinen besten Tagen, auf der Carl-Zuckmayer-Brücke gestanden, mit dem Rücken zum Schöneberger Rathaus, lässig angelehnt an die Brüstung, alleine oder mit Leuten, mit denen er so redet, als ob er eine Art Meister für sie wäre, und ich hätte ihn angesprochen: Ich sehe Sie jetzt schon seit Jahren im Frühling und Sommer hier stehen. Und letzten Sonntag habe ich mir vorgenommen, dass ich Sie das nächste Mal, wenn ich Sie sehe, ansprechen will, um herauszufinden wer sie sind. – Sinngemäß. Bestimmt wäre mir spontan eine weniger umständliche Ansprache eingefallen. Oder ich hätte mich einfach nur zu den Leuten, mit denen er redet, dazu gestellt und zugehört. Vielleicht nur zugehört, und wenn ich genug gehört gehabt hätte, wäre ich wieder gegangen. Weil sich vielleicht gezeigt hätte, dass er auch nicht annähernd so interessant ist wie er aussieht und dass er nur ein schöner Mann ist, dem es in seinem Leben nicht gelungen ist, aus seiner Schönheit etwas anderes zu machen, als sich bei gutem Wetter sonntags auf die Carl-Zuckmayer-Brücke zu stellen und sich bewundern zu lassen. Kann sein, kann aber auch ganz anders sein. Heute wollte ich es herausfinden. Er war nicht da. Obwohl er immer da steht bei Sonnenschein und milder Außentemperatur wie heute, war er heute nicht da. Das gibt es auch, dass er mal nicht da steht, obwohl es eigentlich sein Tag und sein Wetter ist. Aha! - Egal. Der Frühling hat erst begonnen. Der ganze Sommer liegt noch vor uns. Der Sonntag wird kommen, an dem ich meine Neugier befriedigen kann. Doch ganz so einfach ist es nicht. Da ich nun wieder ganz mir überlassen bin, meinen Eindrücken und meinen viel zu vielen Gedanken, bekommt ein Vorfall eine Bedeutung, alleine dadurch, dass ich mich mit ihm beschäftige. Obwohl es mich nichts angeht. Obwohl ich mir dabei wie ein Spießer vorkomme und es auch bin. Aber ich habe nun gerade mal nichts anderes, womit ich mich beschäftigen kann, und ich bin neugierig. Vorfall: Auf dem Weg zur Carl-Zuckmayer-Brücke sehe ich in der Straße, deren Namen ich nicht nenne, Robert, der in Wirklichkeit nicht Robert heißt. Sehe, wie er auf dem Balkon steht und zu mir herschaut. Einem Paar mit Kinderwagen ausweichend verliere ich ihn für einen Moment aus den Augen. Als ich wieder zu dem Balkon schaue, ist er weg. Nach drinnen gegangen. Der kommt bestimmt gleich wieder raus, um mich zu begrüßen, denke ich. Doch als ich das Haus erreiche, in dessen Parterre er wohnt mit Cynthia, die in Wirklichkeit nicht Cynthia heißt, ist die Balkontür geschlossen, die bei schönem Wetter immer offen steht, wenn die beiden zu Hause sind. – Hä?! – Ich weiß, dass ich ein anstrengender Gesprächspartner bin, weil ich sehr ausführlich rede und ausschließlich über das, was mich interessiert. Aber das hat ihn noch nie gestört und seine Freundin Cynthia, die bestimmt dazu gekommen wäre, wenn wir uns begrüßt hätten, sie schätzt das Gespräch mit mir. Das weiß ich. – Was ich inzwischen häufiger erlebe, seit ich blogge, das ist, dass mir Leute aus dem Weg gehen, weil sie nicht in meinem Blog vorkommen wollen. Aber das kann auch nicht der Grund dafür sein, warum Robert mir die Balkontür vor der Nase zugeschlagen hat. Ich habe ihn und Cynthia, obwohl wir uns regelmäßig zufällig auf der Straße begegnen, noch nie im Blog erwähnt. Ich hatte sogar schon den Eindruck, dass die beiden sich deshalb von mir missachtet fühlen. Schließlich sind sie als Paar eine markante Erscheinung im Kiez, und da wir uns regelmäßig begegnen, sind sie ein Bestandteil meines Lebens, welches das Thema meines Blogs ist, und daher müssen sie es als eine Zurücksetzung empfunden haben, dass ich sie noch nie erwähnt habe. - Wenn sie den Blog lesen und das tun sie. Das weiß ich. Wahrscheinlich nicht täglich. Aber vielleicht gerade heute wieder und vielleicht ist das der Grund, warum Robert nach drinnen gegangen ist, als er mich kommen sah, und gleich auch noch die Balkontür geschlossen hat für den Fall, dass ich stehen geblieben wäre, um nach ihnen zu rufen, wie ich es schon manchmal getan habe. Denke ich, während ich weiter zur Carl-Zuckmayer gehe, um dort ein überfallartiges Interview mit dem schönen Mann zu machen oder mich einfach nur unter seine Bewunderer zu mischen. Und je länger ich darüber brüte, dass Robert oder Cynthia oder sie beide meinen Post von gestern gelesen haben, desto sicherer bin ich mir, dass das der Grund dafür war, dass Robert sich vom Balkon zurückgezogen hat – und dass ich richtig liege mit meiner Vermutung über die die beiden. Die Vermutung, die der Grund dafür war, weshalb ich die beiden nie im Blog erwähnt habe, obwohl sie so markante Erscheinungen sind und ich die beiden mag; sie noch mehr als ihn. Denn hätte ich über die beiden geschrieben, dann hätte ich auch über diese Vermutung schreiben müssen. Aber die Vermutung ist nun mal nur eine Vermutung und es ist eine solche Vermutung, dass ich die beiden nicht so ohne weiteres darauf ansprechen kann. Weil ich kann ja schlecht fragen, ob es so ist, wie ich denke: dass Cynthia anschaffen geht und damit das Leben der beiden finanziert? – Was geht mich das an? Die beiden fragen mich ja auch nicht, womit ich mein Leben finanziere. – Und selbst, wenn ich so indiskret wäre sie zu fragen, würden sie meine Vermutung auf jeden Fall bestreiten. Deshalb habe ich nie gefragt, aber weil ich die unbestätigte Vermutung nun einmal habe, die beiden also undurchsichtig für mich sind in ihrer Existenz, habe ich nie über sie geschrieben. Jetzt habe ich es getan und ihnen falsche Namen gegeben, um ihre Anonymität zu wahren. Ich habe die Vermutung nun ausgesprochen. Sie werden es lesen. Sie werden von nun an wissen, dass ich sie aus Rücksichtnahme nicht im Blog erwähnt habe. Und wenn Robert oder sie beide sich gemeint gefühlt haben sollten bei meiner Phantasie über die Bettlerin und ihren Mann, der sie Anschaffen Gehen schickt, dann aus gutem Grund, weil ich dabei tatsächlich an sie gedacht habe. So wie ich bei Robert und Cynthia immer an die Prostituierte und ihren Zuhälter Bob in der Erzählung Modern Saint # 271 von Tama Janowitz (*) gedacht habe, der, während sie anschaffen geht, zu Hause sitzt und Kant und Heidegger liest und auch sonst das Gegenteil dessen ist, was man sich unter einem Zuhälter vorstellt. Was für ein Paar die beiden! Tolles Paar! Sympathisches Paar! Wie Robert und Cynthia auch ein sympathisches Paar sind. Und wenn sie anschaffen geht – ich urteile darüber nicht. Ich bin nur neugierig. Und hätte der schöne Mann heute da gestanden, wo er immer steht, hätte ich nie ein Wort darüber verloren.
(*) Tama Janowitz, Slaves of New York (1986)