Samstag, 26. März 2011

Kurzfassung

Frühling Tag 6. Drinnen ist es besser auszuhalten als draußen. Nicht wegen der 7 ° bei Nordostwind und wenig Sonne. Wegen der Leute, die unterwegs sind. Die meisten so uninteressant und hässlich, dass ich es gar nicht beschreiben möchte. Am schlimmsten ist es in der Goltzstraße und der Umgebung des Winterfeldmarktes. Während es in der Hauptstraße so ist wie immer. Daher nehme ich an, dass es sich bei den Leuten in der Goltz und in der Umgebung des Winterfeldmarktes in der Mehrzahl um Wochenendtouristen handelt. Die einzige interessante Person, die ich bemerke, ist die junge Bettlerin. Sie sitzt in der Hauptstraße in einer schattigen Ecke auf einer Bank und macht eine Zigarettenpause. Wäre das nicht eine gute Gelegenheit gewesen, um mit ihr ins Gespräch zu kommen? – Zwei Euro für Ihre Lebensgeschichte! Kurzfassung. – Nein. Lieber nicht stören. Sie sieht gerade so entspannt aus und deshalb gleich weniger elend als sonst. Das Elende kommt anscheinend auch von ihrem Gehetztsein, das sie nun abgelegt hat für die paar Minuten, während sie ihre selbstgedrehte Zigarette raucht. Neulich bin ich an ihr vorbei gegangen, als sie gerade jemanden anbettelte, der darauf unwillig den Kopf schüttelte. Worauf sie sich hektisch zu mir wandte und sofort wieder die Grimasse gezogen hat, die sie aufsetzt, wenn sie um 50 Cent bittet. Noch bevor sie den Mund aufmachen konnte, habe ich auch den Kopf geschüttelt. Ich hatte kein Kleingeld in der Tasche, und selbst wenn ich welches gehabt hätte, hätte ich ihr nichts gegeben, weil mir gerade nicht danach war. Damit hat sie es also auch noch zu tun: den Launen ihrer Klientel. Ihrer Klientel im Dreieck Akazienstraße und Hauptstraße Richtung Kleistpark. Da scheint sie jeden Nachmittag unterwegs zu sein. Vielen Leuten inzwischen bekannt wie mir. Ist das ein Vorteil? Und was hetzt sie so? Mit ihrer Not kann sie doch auf ein dafür zuständiges Amt gehen. Oder hetzt sie eine Sucht, die man ihr noch nicht ansieht, weil sie noch so jung ist? Keine 22 ist sie und alles an ihr sieht immer wie frisch gewaschen aus. Vielleicht bettelt sie gar nicht für sich (allein). Vielleicht gibt es einen Mann, der sie losschickt. Er würde sie auch zum Anschaffen Gehen schicken, aber das will sie nicht. Das will sie auf keinen Fall. Da gehe ich lieber betteln. Du wirst sehen, ich schaffe das. Ich kriege das Geld zusammen. Das ist eine gute Gegend da. Die Leute mögen mich und ich habe sogar schon ein paar Stammkunden. Die muss ich gar nicht mehr fragen. Wenn die mich sehen, greifen sie schon in die Tasche. Und heute, da habe ich auf der Bank gesessen, wo ich immer Pause mache, und da ist einer hergekommen, der hat mir schon mal statt 50 Cent einen Euro gegeben. Einmal auch nichts. Aber heute hat er mir zwei Euro geben wollen, wenn ich ihm meine Lebensgeschichte erzähle dafür. Kurzfassung reicht ihm, hat er gesagt. – Mann: Du hast doch gar keine Lebensgeschichte. – Sie: Das habe ihm gesagt. Ich habe keine Lebensgeschichte. – Mann: Und er sein Geld gleich wieder eingesteckt. – Sie: Nee. Die zwei Euro, die habe ich mir schon vorher geben lassen. - Ende Phantasie. Mit Sicherheit alles ganz anders. Und trotzdem was gelernt. Bloß nicht nach ihrer Lebensgeschichte fragen, wenn ich mit der Bettlerin ins Gespräch kommen will.