Montag, 14. März 2011

Empathie

Kurzes Begrüßungsgespräch mit dem Kassierer im Hallenbad am Sachsendamm. Wir sind uns einig, dass das 6:0 des FC Bayern gegen den Hamburger SV nicht überbewertet werden darf, schon gar nicht im Hinblick auf das Spiel der Bayern morgen gegen Inter Mailand. – Nachdem ich bezahlt habe und wie immer keine Quittung wollte, fragt er mich unvermittelt: Und? Wie ist es bei Ihnen mit Kernschmelze? Alles okay? – Verdutzt antworte ich: Bis jetzt ja. – Worauf er: Die gleichen Leute, die letztes Jahr über den Streusalznotstand gesprochen haben, die reden jetzt über die Kernschmelze. – Ich lache und während ich in die Umkleide gehe, präge ich mir seine Sätze ein. – In der Halle am Beckenrand Begrüßungsgespräch mit Bernd. Ich zitiere die Sätze des Kassierers, schicke aber voraus, dass ich sie nur zitiere wegen ihres Komikaspektes. Bernd lacht verhalten und schränkt sein Lachen ein mit dem Hinweis, dass er nur über die Sätze lacht wegen des schlechten Witzes. Darauf haben wir einen sehr ernsten Dialog, in dem wir uns völlig einig sind, obwohl wir aneinander vorbei reden. Bernd spricht über das Phänomen Restrisiko, das nun mal gegen unendlich geht: auch wenn man es minimiert, bleibt immer noch ein Risiko, das man nun zwar wieder minimieren kann, aber es bleibt dennoch ein Risiko usw. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. – Und eben deshalb, sage ich, kann ich es nicht verstehen, dass man mit einer so riskanten Technik eine Küste säumen kann, die einem Meeresgrund benachbart ist, auf dem zwei Kontinentalplatten aufeinandertreffen, die sich eines Tages aneinander reiben m ü s s e n, und dann wackelt es so, dass die japanische Hauptinsel hinterher vom GPS-Satelliten aus gesehen um zwei Meter verschoben ist. – Bernd war mal Architekt und sieht es bautechnisch: Wo hätten sie die Kraftwerke denn sonst hinstellen sollen, in die Berge? – Wozu brauchen sie Kernkraftwerke? frage ich. – Irgendwoher müssen sie ihre Energie doch nehmen, sagt er. – Die 20 Prozent ihres gesamten Energieverbrauchs, die sie damit decken, die hätten sie sich auch irgendwo kaufen können. – Bernd hält das, glaube ich, für eine unsachliche Bemerkung. Blick auf die Uhr. Schwimmen. – Danach bin ich besser durchblutet und verstehe jetzt die Sätze des Kassierers als das, was sie sind: Diskurskritik. Er sitzt ab 6 Uhr hinter der Glasscheibe seines Kassenschalters. Wahrscheinlich jeder zweite Frühschwimmer, dem er einen Eintritt für 2.50 verkauft oder die Zehnerkarte zwickt, fängt ein Gespräch mit ihm an. Lassen wir es heute Morgen 100 Frühschwimmer gewesen sein, dann hat er mit 50 Leuten gesprochen, ein Anteil von x dieser Personen hat sich über die Kernschmelze in Fukushima ausgelassen. Er hat sich das anhören müssen und alles, was er mir gegenüber festgestellt hat, war, dass dieser Anteil von Personen identisch ist mit dem Kreis derer, die letztes Jahr über den drohenden Streusalzmangel gesprochen haben, der, so weit mir bekannt, nicht eingetreten ist. Das heißt, es sind Menschen mit Problembewusstsein, Menschen, die dazu neigen, sich Sorgen zu machen, die sich manchmal auch unnötig Sorgen machen, Menschen, die andere nerven. Zum Beispiel den freundlichen Kassierer, der sich das am frühen Morgen anhören muss und genervt ist davon, sich immer das Gleiche anhören zu müssen von den gleichen Leuten, aber der deswegen nicht leichtfertig oder zynisch oder mitleidlos ist. Wenn er im Fernsehen Bilder aus Japan von Strahlenopfern sehen wird, dann wird er genauso entsetzt sein, wie er es sicher gewesen ist, als er Bilder von den Verwüstungen durch das Erdbeben und die Flutwelle gesehen hat. So wie ich auch entsetzt sein werde beim Anblick der Bilder der Strahlenopfer, obwohl ich schon seit Tagen denke, dass es schwer ist, Mitleid zu haben mit einer Bevölkerung, die sich von Energiewirtschaft und Politik für dumm hat verkaufen lassen und es zugelassen hat, dass an einer Küste, die in einer Erdbebenhochrisikozone liegt, vier Kraftwerke betrieben werden mit einer Technik, die mit einem gegen unendlich gehenden Restrisiko behaftet ist. Doch das ist Verstand. Was beim Ansehen der Bilder passieren wird ist Gefühl. Empathie. Mitgefühl. Einfühlen in das Leid anderer. - Leute, die sich Sorgen machen, fühlen sich ein, bevor etwas passiert ist. Ihr Verstand macht sie auf eine mögliche Bedrohung aufmerksam und dann malen sie sich aus, was es für sie und andere bedeutet, wenn aus der Bedrohung Realität wird. Damit nerven sie. - Es kann gar nicht genug solcher Leute geben. So leid es mir für den sympathischen Kassierer tut, der ihnen schon am frühen Morgen zuhören muss.