Gut, dass ich beim Rausgehen gleich eine Bekannte treffe, bei der ich mich beklagen kann über den Temperatursturz: Das ist ja Mantel-und-Schal-Wetter, sage ich fröstelnd, ziehe den Reißverschluss meiner Lederjacke hoch, fühle mich viel zu dünn angezogen, würde gerne noch länger über das Wetter reden, aber da steht ihr Auto, sie muss los und der nächste, mit dem ich rede, über die Gefahr, sich jetzt eine Grippe einzufangen, der beruhigt mich so gönnerhaft mit dem Hinweis auf meinen hochgeschlossenen Pullover, dass ich mir wie ein gebrechlicher alter Mann vorkomme und denke, er hat ja recht, was redest du auch über das Wetter, wenn du heute nichts anderes zu sagen hast, dann lass es doch lieber ganz sein. Geht doch auch mal.
Nur das noch von Peter. Fürs Protokoll. Bei Anneli gestern Kindergeburtstag. Der Enkel ein Jahr alt. Seit ein paar Tagen geht er aufrecht, mit jedem Tag weniger wackelig, trotzdem muss man noch auf ihn aufpassen; dass er zum Beispiel nicht auf den Steinfußboden in der Küche stürzt. Deshalb sie, während wir telefonieren, immer hinter ihm her, um sofort stützend eine Hand auszustrecken, wenn er zu wackeln anfängt. Zur Geburtstagsfeier kam ihre Großfreundin Ingrid. Die ist auch eine alte Freundin von Peter. Mit dem hat sie neulich telefoniert und Anneli gestern davon erzählt, entsetzt, dass Peter wieder Krebs hat. Worauf Anneli mich heute fragt: Warum hast du darüber nicht im Blog geschrieben? – Weil es nicht so ist. – Er hat keinen Krebs? – Er weiß es nicht. Am Montag war er endlich bei der MRT. Da haben sie nicht mehr erkennen können, als dass es sich bei dem Knubbel an seinem Hals um ein tumorartiges Gebilde handelt. Ob gut- oder bösartig, das kann nur mittels einer Biopsie festgestellt werden. Entnahme der Gewebeprobe am Freitag, das Ergebnis der histologischen Untersuchung erfährt er nächste Woche. – Und warum sagt Peter dann, dass er Krebs hat? – Ich zähle die möglichen Gründe auf, die zusammengefasst werden können in dem Satz: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er das auch anderen Leuten erzählt hat, dass er krebskrank ist. Zum Beispiel einem prominenten Jugendfreund, mit dem er vor kurzem wieder Kontakt aufgenommen hat. Dem hat er eine Mail geschrieben mit einer Frage, die ihn bewegt. Die Mail hat er mir weitergeleitet, weil er weiß, dass ich neugierig Anteil nehme an seinem Austausch mit dem prominenten Freund. In der Mail stellt Peter lapidar fest, mit diesen Worten: ich habe Krebs und lebe vielleicht nicht mehr lange. Um dann zu argumentieren: deshalb möchte ich noch ein paar Dinge abklären. – Ich bin richtig erschrocken, als ich das gelesen habe. Nicht, weil ich dachte, er hat mir etwas verheimlicht, sondern weil er so auftritt. Mit so einer Pose. Oder es ist gar keine Pose, weil er sich wirklich so sieht und fühlt. Krebskrank. Während er gleichzeitig alles dafür tut, damit ihm vom Amtsarzt Arbeitsfähigkeit attestiert wird. Während er zugleich sich monatelang gedrückt hat davor, den Knubbel an seinem Hals medizinisch abklären zu lassen. Und jetzt, da er die dazu erforderlichen Untersuchungen endlich zulässt, tut er das auch nur deshalb, weil der Amtsarzt den Knubbel-Befund abwarten will, bevor er sein Urteil über Peters Arbeitsfähigkeit abgibt. - Sonderbar, in jedem vierten Satz benutzt Peter das Wort sonderbar, sage ich zu Anneli. Was nicht ganz stimmt. In jüngster Zeit, sagt er es nicht mehr so oft. Denn die schlimme Phase ist vorüber, in der er nur noch fassungslos den Kopf schütteln konnte darüber, was sein Körper mit ihm macht. Inzwischen ist die Fußwunde verheilt, die unerklärlichen Darmprobleme haben sich verflüchtigt, der Hexenschuss ist abgeklungen. Jetzt hat er es nur noch mit dem unerklärlichen Nasenbluten zu tun, mit dem Knubbel an seinem Hals, der festen Überzeugung, dass es sich bei dem Knubbel um Krebs handelt, und mit mir, der das alles protokolliert in der festen Überzeugung, dass der Knubbel gutartig ist und das ganze Drumherum eine einzige Posse. Hoffentlich habe ich recht.