Freitag, 25. März 2011

Todesangst

Peter. Gestern konnte er die Bilder von der MRT abholen in der Apparate-Praxis in der Eisenacherstraße, um sie seinem Hausarzt zu bringen, damit der sie interpretieren kann und es endlich eine Knubbel-Diagnose gibt. Termin beim Hausarzt war gestern Vormittag. Am Nachmittag Anruf Peters. Keine Diagnose. Sein Therapeut, bei dem er einen Termin nach dem Hausarzt haben sollte, hat den Termin vorverlegen müssen. Und weil der Therapeuten-Termin für Peter wichtiger war als der beim Hausarzt, hat er den Hausarzt-Termin auf nächste Woche verschoben. – Was?! Dir war der Termin beim Therapeuten wichtiger als der Termin, bei dem du endlich eine Diagnose des Knubbels bekommen hättest, wegen dem du in ständiger Todesangst lebst? – Während ich mich deswegen nicht mehr einkriege, sagt er unter anderem: Er habe nicht ständige Todesangst. So groß sei seine Angst also auch wieder nicht. – Was nicht stimmt. Seine Angst ist so groß, dass er sich eine andere als eine Diagnose, die seine schlimmsten Erwartungen bestätigt, gar nicht vorstellen kann. Dass er also in dem Termin beim Hausarzt nicht die geringste Chance gesehen hat, dass ihm seine Todesangst genommen wird. – Und dann sagt er noch: Ich sage dir jetzt nur noch die Wahrheit. – Da hätte ich aufhorchen müssen. Denn, wenn ein Lügner sagt, er sagt die Wahrheit, dann muss man sich nur vergewissern, in welchem Zusammenhang er das sagt, und man weiß, welche seiner Aussagen gerade gelogen war. – Wegen meiner Fassungslosigkeit über seine Prioritätensetzung – Termin beim Therapeuten wichtiger als der Arzttermin zur Knubbel-Diagnose – ist mir das jedoch nicht gleich klar geworden. Erst beim Weiterreden habe ich bemerkt, wie unwahrscheinlich das ist, dass der Therapeut den Termin kurzfristig vorverlegt hat. Dass Peter sich also schon wieder gedrückt hat. Dass er den Termin beim Hausarzt abgesagt hat, weil er die Hosen voll hatte davor zu erfahren, was mit dem Knubbel los ist. Wenn es überhaupt einen Termin beim Hausarzt gegeben hat. – Ich halte Peter das entgegen. Er streitet es ab. Allerdings ohne nennenswerte Gegenwehr, und als ich sage, dass ich mich inzwischen nur noch über ihn schieflachen kann, da lacht er mit. – Mit Schieflachen meine ich, dass ich mich nicht mehr empöre über seine Lügerei und mich auch nicht mehr verarscht fühle von ihm deswegen. Meinetwegen kann er soviel lügen wie er will. Ich werde immer besser darin, seine Lügen zu durchschauen. -  Weil wir nun über das Lügen sprechen und danach über eine Frau in Schifferstadt, kommen wir wieder einmal nicht dazu, darüber zu sprechen, warum er sich vor dem Arzt-Termin gedrückt hat. Denn das ist seine Sache. Und er will, dass das seine Sache bleibt. Deshalb die Lügerei. Mit ihr wehrt er sich gegen meine Versuche, ihn abzubringen von seiner Sache. Deshalb spricht er jetzt lieber über eine Frau aus seinem Telefonverzeichnis – Frau, die er aus Mannheim kennt, die mittlerweile in Schifferstadt lebt und dort einen Kosmetik-Salon hat und mit der er zur Zeit schmerzlich-süße Jugenderinnerungen auffrischt – in denen er sich genüsslich rumwälzt wie ein von der Leine losgerissener Hund in einem Stück Aas. Ende Abschweifung. - Seine Sache: Er ist überzeugt davon, dass es sich bei den Knubbeln um Krebs handelt. Dass er daran sterben wird. Aber er will – ja, was? – keinen Arzt ranlassen, weil der ihm die letzte Gewissheit geben könnte? Und damit das Todesurteil spräche? – Oder weil Arzt und Diagnose auch bedeutet: Behandlung, Klinikaufenthalt, Chirurgie, Anästhesie, hinterher vielleicht noch Chemo- oder Strahlentherapie, alles in allem Einschränkung seiner Freiheit und Minderung seines Wohlbefindens? Wohlbefinden?  Und – noch mal – bei all dem berücksichtigt er nicht, dass er von dem Arzt auch erfahren könnte, dass der Knubbel (inzwischen eigroß) nicht bösartig ist, entfernt werden muss, aber sterben werden Sie daran nicht, Herr Peter. Da haben Sie ganz andere Möglichkeiten. – Worauf der Arzt das MRT-Bild zur Seite legt, um sich noch mal den Ausdruck vorzunehmen mit den Blutwerten Peters und dann über Peters Leber zu sprechen und, ja auch: die Gutartigkeit dieses Organs. Wie viel die Leber verzeiht, wie regenerationsfähig, und wie verhandlungsbereit sie ist, wenn man ihr ehrlich gemeinte Angebote macht. Wenn man sich also nicht einredet, nur zwei Gläser Wein pro Tag zu trinken, sondern tatsächlich jeden Tag nach dem Einschenken des zweiten Glases die Flasche ganz weit von sich wegstellt. Besser allerdings noch, wenn man wegen der Schwere des Leberschadens eine Weile ganz auf Weißwein verzichtet. Obwohl man aus einer Weingegend kommt, es seit ungefähr 45 Jahren keinen Tag ohne Wein gab, das Trinken ja auch ein Trost ist, man Angst davor hat, wie beim letzten Klinikaufenthalt, ins Delirium zu fallen nach drei Tagen ohne Alkohol. Obwohl man das also unbedingt verhindern will, weil man es sich auch gar nicht erklären kann, denn man hat doch nie mehr als eine Flasche Wein am Tag getrunken. War nie betrunken. Weiß gar nicht, wie das geht. Hat nie einen Kater gehabt. Weiß gar nicht, wie sich das anfühlt. Hat im Grunde genommen gar kein Alkoholproblem. Kann es sich gar nicht erklären, weshalb der Gamma GT Wert viermal so hoch ist wie er .. . - Ich höre auf. -  Nicht wegen der Skype-Gespenster, die Peter nun wieder zuflüstern werden: Warum lässt du dir das gefallen, wie der über dich schreibt? - Auch nicht, um ihn zu schonen. Wüsste ich, dass es hilft, würde ich ihn noch viel mehr quälen. Aber es hilft nicht. Ich höre auf, weil es genug ist. Weil ich ihm nicht helfen kann, indem ich über ihn schreibe. Ich kann ihm nur helfen, indem ich ihm zuhöre und ihm Mut mache. Davon kann ich erzählen. Von mir. Wie ich ihm Mut mache und ihm zuhöre. Wie mich dabei die Wiederholungen nerven, wie ich inzwischen schon einige Male ausfällig gegen ihn geworden bin wegen dieser ständigen Wiederholungen. Und trotzdem telefoniere ich täglich mit ihm. Will ihn nicht im Stich lassen. Habe auch niemanden anderen, mit dem ich telefonieren könnte. Wüsste auch niemanden anderen, mit dem ich so viel lachen kann wie mit Peter. Kenne niemanden, der so offen über sich spricht wie er. – Widerspruch, ich weiß. Aber er kann das: offen und zugleich verlogen sein. Nicht nur deshalb habe ich ihm in dieser Woche schon zweimal gesagt, was für eine reiche Persönlichkeit er ist. Um ihn aufzubauen, habe ich es ihm gesagt, aber es auch wirklich so gemeint. Er ist eine reiche Persönlichkeit. Was nicht ausschließt, dass er morgens um drei Uhr eine Mail schreibt zum Thema Impotenz, die so daneben ist – und das nicht nur in ihrer Wortwahl -, dass ich von jedem anderen, der so etwas schreibt, mich innerlich auf Nimmerwiedersehen verabschieden würde. Von ihm nicht. Er darf das. Nicht, dass ich es ihm verzeihen würde – es ist unverzeihlich, sein Genital als Lümmelchen zu bezeichnen, Härte sprachlich mit Krupp-Stahl zu verbildlichen und Lust bei unvollständiger Erektion als halbgar zu charakterisieren. Unverzeihlich! Aber ihm lasse ich das durchgehen. Bei ihm denke ich, darauf kommt es doch gar nicht an. Er macht mich nachsichtig, tolerant, großzügig, hilfsbereit zuverlässig, loyal. Und zu ihm kann ich so sanft und liebevoll sein, wie ich mir wünschte, dass zu mir auch mal jemand so wäre.