Dienstag, 29. März 2011

Lutscher

Die gern gesehene Sonderschullehrerin hätte ich heute beinahe übersehen auf der Hauptstraße, wenn sie nicht so auffällig weggeguckt hätte. Mir entgegen kommend hat sie den Hals verdreht, als hätte sie eine ganz wichtige Entdeckung gemacht in dem Kramladen, an dem sie gerade vorüberging, und in dem Plunderladen nebenan muss sie gleich auch noch was entdeckt haben. – Liegt etwas gegen mich vor? Oder wollte sie verhindern, Opfer eines überfallartigen Interviews zu werden? – In dem Fall ist sie das Risiko eines Halsstarrkrampfes unnötig eingegangen. Weil ein überfallartiges Interview hatte heute niemand zu befürchten. Nicht mal Hallo hätte ich gesagt, wenn sie hergeguckt hätte, gerade mal gequält gelächelt hätte ich und danach gleich wieder stumpf vor mich hingeblickt. Nichts sehen, nichts hören und bloß nichts sagen – heute nicht und den Rest der Woche auch nicht. So ein Tag ist das heute.

Gestern war Peter endlich beim Hausarzt mit den MRT-Bildern. Ergebnis: Der Knubbel ist ein geschwollener Lymphknoten. Auf mehr wollte sich der Arzt zunächst nicht festlegen. Er muss sich die Bilder später noch mal genauer anschauen. Nach Ende der Sprechstunde wird er Peter anrufen. – Oh! denke ich. Sage aber nichts, muss ich auch gar nicht, Peter denkt auch so schon das Schlimmste. – Ich versuche gute Stimmung zu machen. Lobe ihn dafür, dass er hingegangen ist und den Termin nicht wieder verschoben hat. Sage, wenn du ein Kind wärst, würdest du als Belohnung jetzt ein kleines Geschenk kriegen. – Einen Lutscher? fragt Peter. – Gute Idee, antworte ich. Ich denke mir als Belohnung einen Lutscher für dich aus. – Da ist es gegen 13 Uhr. Peter hat in der Nacht vor Aufregung und Angst vor der Diagnose kaum geschlafen. Die Wartezeit bis zum Anruf des Arztes will er rumbringen, indem er sich über Nachmittag hinlegt, um den versäumten Schlaf nachzuholen. Das gelingt ihm und ich mache es kurz: Anruf des Arztes gegen 18 Uhr. Entwarnung! Kein Lymphdrüsenkrebs. Der Lymphknoten ist geschwollen. Nur geschwollen. Der Arzt empfiehlt, dass Peter beim HNO-Kollegen eine Biopsie machen lässt, um ganz sicher zu gehen. Doch jetzt schon kann Peter sich mal fragen, ob es nicht konstruktivere Möglichkeiten gibt, mit seiner Lebenskrise umzugehen, als sie körperlich abzureagieren mit Darmproblemen, Nasenbluten, Lymphknotenschwellung und Krebsangst. Mehr als drei Monate war er überzeugt davon, Krebs zu haben, den hochaggressiven Halsknubbelkrebs, bei dem man es sich schenken kann, ihn diagnostizieren und behandeln zu lassen, da es sowieso keine Rettung gibt und man sich die verbleibende Lebenszeit nicht von Ärzten verderben lassen sollte. – Das denke ich, sage aber kein Wort darüber, weil ich mich freue und will, dass er sich auch freut. Doch er reagiert auf die gute Nachricht wie ein mäkliger Kunde. Wieso hat er überhaupt noch Lymphknoten am Hals? fragt er sich. Er dachte, die hätten sie ihm alle entfernt damals, als sie ihm den Zungenbodenkrebs wegoperiert haben.

Seinen Lutscher bekommt er trotzdem. Der Lutscher besteht aus zwei Teilen. Einer roten und einer grünen Hälfte sozusagen. Rote Hälfte: Ich rege an, dass Peter ein neues Fotoprojekt beginnt (*) und lade ihn ein, die Fotos hier im Blog zu veröffentlichen. Nicht als Illustration meiner Postings, sondern für sich stehend. Wenn er will, kann das eine Bildgeschichte sein, mit der er seine Geschichte selbst weitererzählt. Denn - grüne Hälfte - ich schreibe ab jetzt nicht mehr über ihn. Nichts mehr über ihn und seine Lebenskrise. Ende des Peter-Erzählstrangs. Ab jetzt muss er es nicht mehr ertragen, morgens um drei zu lesen, was ich alles über ihn denke. Ab jetzt kommt er im Blog nur noch als mein Gesprächspartner vor.

(*) Ein befreundeter Rechtsanwalt und Kunstfreund war so begeistert von Nackte Wände, dem letzten Fotoprojekt Peters, dass er ihn gefragt hat, ob er damit einverstanden ist, wenn eine Auswahl der Fotos bei der nächsten Langen Nacht der Museen in Mannheim in der Alten Feuerwache ausgestellt wird. – Peter war einverstanden. Aber da war es auch so, dass ich mich mehr gefreut habe als Peter, der murrte, er sei doch kein Künstler, er sei Sozialarbeiter. - Wie ein mäkliger Kunde.

Das noch: Peter hatte heute zum ersten Mal seit Wochen kein Nasenbluten.  -  Sonderbar.