Freitag, 1. Oktober 2010

Zeitraffer

Das Lebensgefühl bleibt wacklig. Nachwirkung der Entscheidung, das Plotgeschäft mit der Produzentin aufzugeben. Wer bin ich jetzt? Was mache ich jetzt? Am Montag schreibe ich was über die Aufbruchstimmung in der brasilianischen Mittelklasse (nach Briefing). Eine Auftragsarbeit für ein Trendforschungsinstitut. Brot-und-Butter-Job. Keine große Sache. Aber ehrliche Arbeit. Vielleicht gibt es demnächst mehr davon. – Auf Welt Online ein Artikel von Ulf Poschardt über Gentrifizierung in Mitte. Namedropping. Feuilleton. Nichts Erlebtes. Wie im Lehrbuch der Gentrifizierung entdeckten die neugierigen Tentakel der Bohème zuerst die heruntergekommenen Altbauten rund um den Hackeschen Markt und konnten sich vorstellen, dass daraus wenn nicht blühende, so doch blendende Landschaften werden konnten. Er schreibt wie ein alter Mann. 43 ist er. – Auf SPON Kultur ein Interview mit der gern gehörten Sophie Hunger: Ich lese jeden Tag sehr viele Zeitungen, im Internet. Ich lese die Bild, SPIEGEL ONLINE, die "New York Times", den "Tagesanzeiger" aus Zürich, alle politischen Lager, alle Niveaus. Und weil ich das tue, habe ich halt permanent schlechte Laune. – Ach ja? Nach dem Lesen: als wäre nichts gewesen. Warum gibt es dieses Interview? Deutschland-Tournee steht an. Unbezahlte Werbung. – Verfolge den Fall des 18jährigen Studenten Tyler Clementi. Er verabredet mit seinem Kommilitonen Dharun Ravi, dass der ihm für den Abend das gemeinsame Zimmer überlässt. Clementi trifft sich dort mit einem Mann, hat Sex mit ihm. Der Zimmergenosse hat seine eingeschaltete Kamera liegen lassen. Zusammen mit der Kommilitonin Molly Wei veröffentlicht er das Material in einer Art Social Network, das nicht Facebook ist. Clementi springt von einer Brücke, die eine sichere Sache für Suizid ist. Immer wieder wird betont, dass es an dem College eine große akzeptierte gay community gibt. Davon haben Ravi und Wei offenbar nichts gewusst. Clementi auch nicht. Wegen Eindringens in die Privatsphäre droht Ravi und Wei jetzt eine Freiheitsstrafe von bis zu 5 Jahren. Vom College fliegen sie auf jeden Fall. Begriff für einen Straftatbestand: Hate Crime. – Beschäftige mich mit der Privatsphäre-Diskussion um Facebook-Chef Mark Zuckerberg. Kein Zusammenhang mit dem Fall Clementi. Oder doch? Ich sympathisiere mit Zuckerbergs Ansicht. Ich würde sie nur nicht so normativ formulieren. Zitat Mark Zuckerberg: "Die Zeiten, in denen man für seine Kollegen ein anderes Image pflegte als für andere Menschen, die man kennt, werden nicht mehr lange andauern. (…) Zwei Identitäten zu haben, zeigt, dass es einem an Integrität mangelt. - Im letzten Interview vor seinem Tod hat Jean-Paul Sartre gesagt: Wie jeder andere Mensch habe ich einen dunklen Grund in mir, der nicht ausgesprochen werden will. Ich meine nicht das Unbewusste, ganz und gar nicht. Ich meine Dinge, die ich weiß. Es gibt immer einen Rest, der von mir nicht ausgesprochen werden will. Man kann nicht alles sagen, das wissen Sie so gut wie ich. Und jetzt kommt´s: Aber ich glaube später, das heißt nach meinem Tode und vielleicht nach dem Ihren werden die Menschen mehr und mehr von sich selber sprechen und das wird einen großen Wandel bewirken. Ich glaube übrigens, dass dieser Wandel mit einer wirklichen Revolution einhergehen wird. - Sartre und Zuckerberg zusammen betrachten. Das Sartre-Interview nachlesen. Freibeuter Nr. 5/1980. Zeitschriften-Archiv der Zentral- und Landesbibliothek. Heute es wieder nicht geschafft nach Mitte zu fahren, um den Text dort zu kopieren. Nicht mal geschafft, der Produzentin die Mail mit der Absage zu schreiben. Weil ich so lange an einem Text über den Vermieter von der Tess rumgemacht habe. Weil der Tag so schnell vergangen ist. Nachmittags zurückgedacht an heute Früh, den Weg mit dem Fahrrad zum Hallenbad am Heidelberger Platz. Keine Erinnerung mehr an das Wegstück zwischen der Fußgängerhrücke über der Bundesallee und der Uhlandstraße. War ich so tief in Gedanken? Oder ist bei mir der Zeitraffer eingeschaltet? – Heute mal überlegt: was kann ich noch aufgeben, um Zeit zu gewinnen? Viele Möglichkeiten bleiben nicht mehr: Das Rauchen? Das Feuilleton-Lesen? – Was von Sophie Hunger hier: The Tourist (wenn sie Go sagt!) und hier: Teenage Spirit.

Wegen Streichung siehe Bedrohung.