Mittwoch, 20. Oktober 2010

Nebendarsteller

Zweimal Telefon. Der eine Freund ruft mich an. Den anderen rufe ich an. - Der Freund, der mich anruft, meldet sich mit tränenerstickter Stimme. Entschuldige, dass ich so emotional bin, sagt er. Doch er weint nicht, weil es so weh tut, er selbst zu sein; das ist außerdem noch. Er weint aus Erleichterung und deshalb ruft er an, um mir das zu erzählen: Dass er endlich nach einem Vierteljahr Warten - Warten. bis seine private Krankenkasse der Kostenübernahme zugestimmt hat, und weiterem Warten, bis ein Bett frei wurde in der Klinik -, dass er endlich am Montag in die Klinik gehen darf zur psychosomatischen Therapie des – wie es so anschaulich wie möglich benennen? – völligen Zusammenbruchs seiner Persönlichkeit. Den Rest hat ihm gegeben diese immer verzweifeltere Warterei und dass er nicht arbeiten konnte, weil er krank geschrieben war die ganze Zeit, während er wartete. Und dass er dadurch konfrontiert wurde mit sich selbst auf eine so gruselige Art, dass er es inzwischen kaum mehr aushält sich selbst zu sein. Jetzt ist er ganz aufgeregt. Wegen all der Vorbereitungen, die er noch zu treffen hat, und wegen dem, was ihn in der Klinik erwartet: Was soll ich denen denn erzählen am Montag? – Die werden schon merken, was mit dir los ist, beruhige ich ihn. Du musst da einfach nur du selbst sein. Das schaffst du. – Den anderen Freund rufe ich an, weil er heute Geburtstag hat: Herzlichen Glückwunsch, Michael! 54. Schönes Alter. Und da du alles hast, was du brauchst, und das reichlich, was kann man dir da noch wünschen außer einem langen Leben bei bester Gesundheit. – Er bedankt sich und erzählt von den Büchern, die er von seiner Frau geschenkt bekommen hat. Claude Lanzmann, Der patagonische Hase. David Foster Wallace, Unendlicher Spaß: Infinite Jest. – Lanzmann, da weiß ich nicht, ob das sein muss. Aber Infinite Jest, da gratuliere ich ihm gleich noch mal zu diesem Geschenk. Infinite Jest habe ich dem anderen Freund übrigens empfohlen als Klinik-Lektüre. Und Michael erzähle ich dann noch von dem genialen Essay von Montaigne, genial auch deshalb, weil man den Essay gar nicht zu lesen braucht, man muss nur seinen Titel kennen, weil mit dem Titel schon alles gesagt ist: Philosophieren heißt Sterben lernen. Denn - das war der Kontext - noch so viel Gesundheit wird nicht verhindern können, dass auch das längste Leben einmal endet, und darauf sollte man sich rechtzeitig vorbereiten mit Weisheit, die ich dem Michael zum Schluss auch noch wünsche. - Danach ist es 11.30 Uhr und ich frage mich: Was mache ich jetzt? Nicht einfach nur so: was mache ich als nächstes? Sondern, was mache ich jetzt, nachdem das ganze Wollen, Wünschen und Begehren nicht geholfen hat? Was bleibt, nachdem ich den Seelenmann weggeschickt habe und ein paar Wochen zuvor schon den verkrachten TV-Autor? Damit sind die Hauptdarsteller aus meinem Leben verschwunden. Jetzt bin ich nur mehr ein Nebendarsteller in meinem Leben, denke ich. Der Satz gefällt mir. Aber sagt der denn auch was? Ich experimentiere mit dem Satz. Was hat der Nebendarsteller vorher gemacht? – Zugeschaut hat er, was die Hauptdarsteller getrieben haben, und dann hat er eines Tages angefangen, diesen Blog zu schreiben über das Treiben der beiden Hauptdarsteller. Jetzt sind die weg. Was bleibt? Ein sich zuspitzender Geldmangel und der Blog. Immerhin der Blog. In dem Blog veröffentliche ich mein Leben. Und in dem Blog richte ich mir jetzt mein Leben als Nebendarsteller ein, denke ich. Wieder so ein Satz: In dem Blog richte ich mir mein Leben ein. Wie soll das gehen? - Das Bild von Escher fällt mir ein, das mit den Händen, die sich selbst zeichnen. Oh je! - Komm! So schlimm wird es schon nicht werden.