Dienstag, 26. Oktober 2010
Wagenbach
Lange überlegt, schreibe ich das noch rein, dass das in Auschwitz war, wo Editha zur Zwangsarbeit selektiert wurde und ihre Mutter und ihre Schwester nicht, oder lasse ich das so wie es ist, weil die Leser bei Rampe ohnehin Auschwitz assoziieren werden, wie ich es tue. – Ich entscheide mich dafür, es zu lassen, wie es mir beim Schreiben eingefallen ist, ohne den Namen Auschwitz. Mit der Überlegung, dass es besser so ist, weil wenn die Leute Auschwitz lesen, da schalten sie sowieso gleich ab – da denken sie an ein Ausmaß von Grauen, das nicht mehr vorstellbar ist, und deshalb haben sie es ab irgendwann lieber gelassen, es sich vorzustellen, oder sie gehen reflexartig in den Widerstand, wenn ihnen der Name Auschwitz begegnet, weil sie es nicht mehr hören wollen oder können und es nun endlich mal genug sein soll damit. So oder so erreicht sie dann nicht mehr, was ihnen erzählt wird, und so betrachtet war das eine richtige Entscheidung meines Bewusstseins, es mich beim Schreiben vergessen zu lassen, den Ort zu nennen, an dem die geschilderte Schlüsselszene im Leben Editha Fischers sich ereignet hat. – Auch noch von gestern: Beim Schreiben eines Briefes taucht plötzlich ein Wort auf, das ich seit Jahrzehnten nicht mehr gehört habe. Dazu in einer Mail an Stephanie heute Früh: Habe übrigens Quincy angemailt wegen Info über Stephan Buck für Henny. Aber der Kloben hat sich trotz Nachfassens noch nicht gemeldet. - Kloben ist mein neues Lieblingswort. Das ist gestern an die Oberfläche aufgestiegen aus den Tiefen meines Vokabulars. Ein Ausdruck meines Großvaters, der selbst ein Kloben war. - Jetzt frage mich aber bitte nicht, was genau ein Kloben ist. Das muss man sehen. XXXXXX ist zum Beispiel auch ein Kloben. Wobei Kloben aber nichts mit dick zu tun hat. Mein Großvater war nicht dick ... (Weitere Bemerkung über meinen Großvater gestrichen, weil ich mich hier nicht über meine Familie äußern will, so wie ich mich hier auch nicht äußere über die Leute in dem Haus, in dem ich wohne) ... Du merkst, ich bin in Plauderlaune. Das kann heute noch was werden! – Inzwischen hat sich Quincy gemeldet. Und inzwischen war ich auch endlich in der Berliner Stadtbibliothek in der Breiten Straße in Mitte wegen des Sartre-Interviews in Freibeuter 5/1980. Vorher angerufen, damit der Titel für mich bereitgelegt wird, um das Interview lesen zu können dort und anschließend zu kopieren (keine Ausleihe von Zeitschriften). Dann komme ich eineinhalb Stunden später in den Kellerraum, in dem die bestellten Titel ausliegen, falle beinahe die Treppe runter, weil ich schwungvoll die unteren zwei Stufen übersehe, bleibe unverletzt, finde aber im Regal keinen Freibeuter Nr. 5/1980. An der Information stellt sich heraus, dass der Teil des Archivs, in dem das Zeitschriftenexemplar sich befindet, wegen Umbauarbeiten in der Bibliothek ausgelagert ist. Das hat die Frau mit der niedlichen Stimme, die meine Vormerkung am Telefon so freundlich entgegen genommen hat, nicht gewusst, weil sie nicht auf den unteren Rand der Bildschirmanzeige des Titels geguckt hat, wo es vermerkt ist, dass er derzeit nicht verfügbar ist. Das zeigt mir jetzt die Frau an der Information, indem sie den Bildschirm zu mir herdreht, damit ich es selbst sehen kann. Sie macht das deshalb, weil ich sie so ungläubig angeschaut habe, als sie mir sagte, dass die Zeitschrift nicht bereitgestellt werden kann, wegen der ich mit der U-Bahn von Schöneberg nach Mitte gefahren bin, und jetzt stehe ich da und muss einsehen, dass das passieren kann und es nicht zu ändern ist, dass die Kollegin nicht auf den unteren Rand des Bildschirms geguckt hat im Übereifer ihrer Niedlichkeit. Danach bin ich den Weg zurück nach Schöneberg zu Fuß gegangen, damit ich wenigstens etwas getan hatte. Während dessen habe ich über die zwei Unentschiedenheiten des Tages nachgedacht. Ob ich das weiter verfolgen soll mit der Geschäftsidee, die eine Erzählidee ist – ob ich mich da nicht nur immer weiter an die Plotterei klammere, anstatt sie ganz hinter mir zu lassen? Und dann noch: Ob ich das machen soll, über die Geschichte der Tess zu schreiben von der Tess aus gesehen – ob ich das mal endlich gut sein lassen soll oder diesen Moment noch beschreiben auf der Akazienstraße im Frühling vorletzten Jahres? Um ihn zu betrachten - von mir aus, von ihr aus, völlig egal, auf jeden Fall frei von der ganzen Aufregung, mit der ich bislang über die Tess geschrieben habe. Darauf gab es dann sogar eine Antwort: W e n n, dann in aller Stille. – Zu Hause hatte ich eine Mail von Stephanie, bei der es heute auch nicht so gut gelaufen ist. Wegen Bahnstreik konnte sie nicht nach Kassel fahren, stand also umsonst um 6 Uhr im Münchner Hauptbahnhof. Am Ende schreibt sie: Mal sehen, was Du in Deiner Plauderlaune heute so bloggst?! – Antwort: Dass es schließlich doch noch gut ausgegangen ist mit dem Freibeuter 5/1980. Nachdem ich das hier geschrieben hatte - mit einem Schluss darüber, dass mir im Laufe des Tages meine gute Laune und damit auch die Plauderlaune vergangen ist -, danach habe ich nämlich beim Wagenbach Verlag in der Emser Straße angerufen, bei dem der Freibeuter erschienen ist. Die Nummer des Vertriebs hatte ich gewählt, und obwohl es bereits 18.30 Uhr war, ging noch jemand ran. Leider habe ich den Namen nicht richtig verstanden, mit der die Frau sich meldete. Ich habe ihr umständlich erklärt, dass ich ein Privatmann bin, womit ich sagen wollte: kein Vertriebspartner, sondern ein Leser. Womit ich bei ihr aber trotzdem an der richtigen Stelle war. Nachdem ich ihr geschildert hatte, was ich will, sagte sie, dass sie mir kein Exemplar von Freibeuter Nr. 5/1980 verkaufen könnten, weil sie selbst nur noch wenige Exemplare hätten; sie würden mir aber gerne das Sartre-Interview fotokopieren und es mir zuschicken. Unentgeltlich selbstverständlich. - Was?! Das wollen Sie machen? frage ich ungläubig. - Worauf sie: Wir tun alles für unsere Leser. - Nachdem ich ihr meine Adresse gegeben habe, bedanke ich mich ganz herzlich und überschlage mich dabei fast vor Freude über das Entgegenkommen. - Worauf sie wieder: Das machen wir doch gern. Wir sind ein leserfreundlicher Verlag. - Und weil man das nun wirklich nicht anders sagen kann, so komisch es klingt, ändere ich den Titel des Posts von - wie ursprünglich vorgesehen - Laune zu: siehe oben.