Montag, 25. Oktober 2010
Editha
Editha Fischer. Die werde ich demnächst besuchen in Moabit. Wohin sie verlegt wird zur Reha. Verlegt wird aus der Klinik in Lichtenrade, in der sie sich befindet seit ihrem Sturz im August, bei dem sie sich was gebrochen hat in der Körpermitte. Alte Frau, die sie ist, da will man das gar nicht präzisieren. Gestern um die Mittagszeit rief sie an. Erweckte den Eindruck, als hätten wir gerade eben schon telefoniert und jetzt ruft sie noch mal an. - Sie müssen sich verwählt haben, sage ich. - Sie sind doch Wolfgang Gensheimer, sagt sie. – Das ja. Aber ich kenne Sie nicht. – Sind Sie nicht mit Maria zusammen? – Ich bin mit niemandem zusammen. – Dann weiß sie auch nicht. Wir beenden das Gespräch und ich grüble: Editha Fischer. Editha Fischer. Editha Fischer. Die Stimme. Stimme einer älteren Frau. Ganz leichter osteuropäischer Akzent. Editha Fischer. Maria. Hat sie Maria gesagt? Und wie kommt sie zu meiner Handynummer, wenn ich sie nicht kenne? – Plötzlich! Ich sehe sie vor mir! Die Frau Fischer! Die alte Frau mit ihren kohlrabenschwarz gefärbten Haaren und ihrer Gehschwäche, deshalb am Stock. In der Grunewaldstraße wohnt sie. In einem Neubaukomplex. Und Raucherin ist sie immer noch in ihrem hohen Alter. Wie alt wird sie sein? Wie alt war sie, als der SS-Mann sie am Arm gepackt und von der Rampe gezerrt hat, weg von ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester? Transport aus Ungarn. Die Ungarn kamen zum Schluss dran. 1944 war das. Mitte oder Ende 1944. Da wird sie 14 oder 15 gewesen sein. Die Mutter zu alt, die kleine Schwester zu jung für die Zwangsarbeit. Geradeaus zum Duschen ins Gas. Nach rechts zum Sammelpunkt für die Eisenbahnfart ins sogenannte Reich. Wenn sie damals 14 oder 15 war, dann ist sie jetzt Anfang 80. Und in dem Alter so ein komplizierter Bruch. Schlimme Sache. Aber es wird wieder. Nur, es dauert. Und niemand, der sie besucht. – Sie besuchen mich doch mal, sagt sie, als wir dann noch mal miteinander sprechen, nachdem ich sie zurückgerufen habe, weil es mir keine Ruhe gelassen hat, dass ich sie nicht erkannt habe wegen meiner Begriffsstutzigkeit. Sie erklärt, dass sie mich verwechselt hat mit einem anderen Wolfgang, und fragt dann, wer ich nun bin. Sie weiß nämlich nicht, wie meine Nummer in das Verzeichnis ihres Handys kommt. – Ich erzähle ihr, dass ich mal mit ihr gesprochen habe für eine Recherche, die ich gemacht habe. Ina hat den Kontakt vermittelt, hätte ich noch sagen können, aber das ist mir erst hinterher eingefallen. Doch jetzt erinnert sich Frau Fischer auch so wieder an mich. Allerdings nur dunkel. Egal. Sie werden mich doch mal besuchen, wenn ich in Moabit in der Reha bin, sagt sie. So wie sie damals gesagt hat nach unserem Gespräch, ich soll sie doch mal wieder anrufen. Am besten nachmittags, da ist es immer so langweilíg. Ich habe sie nicht mehr angerufen. Einmal habe ich sie zufällig auf der Straße getroffen und ihr den Einkauf bis vor ihre Wohnungstür getragen. Und jetzt zögere ich, ihr zu versprechen, dass ich sie besuchen werde, und sie merkt das. Sie erzählt von einem Historiker, dessen Buch bald erscheinen wird. Der hat sie befragt über die Zeit, als ich bei Daimler-Benz gearbeitet habe, wie sie es formuliert. In Ravensbrück. In der ausgelagerten Kriegsproduktion. Der Historiker hat mehrere Seiten über mich geschrieben. Frau Fischer ist sehr gefragt als Zeitzeugin. Sonst nicht. Ihr letzter Mann ist schon lange tot. Keine Kinder. Keine Verwandtschaft. Wenige Freunde. Ins jüdische Altersheim könnte sie gehen. Das will sie nicht. - Es ist damals nicht viel für mich rumgekommen bei dem Recherchegespräch mit ihr. Mein Thema war gegenwärtiges jüdisches Leben in Berlin. Da hatte sie nicht viel dazu beizutragen. Es war ein deprimierendes Gespräch. Wegen der Einsamkeit der alten Frau. Aber ich habe dann meiner Lieblingsfigur in dem Plot, den ich später entwickelt habe, ihren Vornamen gegeben. Edith. Edith Katz. Die Großmutter aus New York, die in einem englischen Kinderheim überlebt hat, und zum ersten Mal zurück kommt in die Stadt ihrer Kindheit. Damit fängt die Geschichte an. – Die Einsamkeit der alten Frau. Ich höre ihr geduldig zu. Stelle Fragen. Doch dann ist alles gesagt. Ich versuche das Gespräch zu beenden. Mit Genesungswünschen und Aufmunterungen. Und während ich das tue, merke ich, dass das alles leeres Gerede ist und das Einzige, was ich ihr Gutes sagen kann, das ist, wenn ich jetzt sage: Rufen Sie mich wieder an, Frau Fischer, wenn Sie in Moabit sind. Ich werde Sie dort besuchen. – Daran, wie ich das sage, erkennt sie, dass ich das auch tun werde. Da kann sie sich darauf verlassen. Das weiß sie. Als wir uns verabschieden, meint sie: Dann wissen wir ja jetzt wieder, wer wir sind. Und in dem Moment klingt ihre Stimme wie die Stimme eines Mädchens.