Sonntag, 24. Oktober 2010

Gerne

Jetzt. Was ich Stephanie erzählt habe von der Tess. Beziehungsverhältnisse: Die Tess lebt mit dem Professor zusammen. Er ist ihr Freund oder ihr Lebensgefährte. Wie immer man es nennen will: Sie sind ein Paar. Verheiratet sind sie nicht. Die Andrea Mulder ist die Ex-Freundin oder Ex-Frau des Professors; möglicherweise sind sie verheiratet, dann aber getrennt lebend. Kann sein, dass sie eine Besitzgemeinschaft sind. Dass ihnen zusammen die Dachwohnung gehört, die hier schon so eine große Rolle gespielt hat. So wie ich den Professor und die Andrea Mulder einschätze, gehört die Wohnung ihr. Menschlich ist es zwischen den beiden wahrscheinlich so wie es bei uns ist, habe ich zu Stephanie gesagt: Die beiden kennen sich schon sehr lange. Waren mal zusammen. Haben sich getrennt, aber deswegen nicht verfeindet. Wenn einer den anderen braucht, sind sie für einander da. So wie im Sommer, wo er sie brauchte für seine seltsame Verwirrungsaktion gegen mich und sie für ihn gelogen hat. Das würdest du für mich auch tun, wenn ich so eine Aktion machen würde, auch wenn es dir seltsam vorkäme. Stephanie bestätigt das. – Dann habe ich ihr noch erzählt, was die Tess letzte Woche gemacht hat mit ihrem Eingehacktsein bei mir. Nun habe ich aber den Eindruck, dass die Tess nicht will, dass ich das hier preisgebe. Ich verstehe nicht warum. Denn es war nicht etwa eine sinnlos destruktive Aktion. Nur war sie noch nie zuvor so weit gegangen wie in diesem Fall. Deshalb habe ich so gestaunt. Und weil ich so gestaunt habe, wollte ich es hier unbedingt erzählen und mich erst nicht kümmern darum, dass das der Tess nicht passt. Jetzt denke ich jedoch, dass die Tess ihre guten Gründe haben wird, dass sie es nicht will. Und das akzeptiere ich, ohne die Gründe zu kennen. Ich schenke ihr das sozusagen. Ich werde nicht erzählen, was sie und warum sie es gemacht hat und welche andere Absicht sie noch damit verfolgt haben könnte neben der offenkundigen. Ich schenke es ihr, weil ich ihr gerne was schenke. Und weil ich es mir schenken will. Weil ich raus will aus diesen Geschichten und den Überlegungen dazu und den Mutmaßungen darüber. Und das, was ich Stephanie sonst noch erzählt habe über die Tess, das schenke ich mir auch. Kein Zurückblicken mehr. Also auch nicht die Geschichte der Tess aus ihrer Sicht? – Das ist was anderes. Viel weiß ich darüber ohnehin nicht. Gerade mal drei Sätze habe ich und ein Bild gibt es dazu, eine kleine Szene aus dem vorletzten Frühling. Die Szene ist angedeutet bei den Schnappschüssen am Ende von Brief 3: Die Tess vorüber gehend, untergehakt bei dem Mann in ihrer Begleitung. Mein Blick auf ihre Beine. Ihr Blick über die Schulter zu mir. - Wenn es mir gelingt, die Szene von ihrem Blick ausgehend zu erzählen, dann habe ich den Anfang der Geschichte der Tess von ihr aus gesehen. Vielleicht ist auch gar nicht mehr zu erzählen als diese Szene, weil in der schon alles drin ist, was ich weiß. Alles andere müsste die Tess erzählen. Vielleicht tut sie das irgendwann.