Samstag, 23. Oktober 2010

Maul

Die Akazienstraße hoch. Zu Aldi und danach zu Reichelt. Wenn jetzt nicht irgendwas passiert, werde ich heute noch mal über die Tess schreiben. Wie fange ich an? Beim Betreten der Kaiser-Wilhelm Passage habe ich es: Schlechte Woche, um mit dem Rauchen aufzuhören. Schlechter Tag, um damit aufzuhören an die Tess zu denken. Außerdem kann ich mir das nicht durchgehen lassen, dass ich am Donnerstag was ankündige und dann gestern schreibe, ätsch, das kommt jetzt aber nicht – das kommt erst demnächst mal. Das kann nämlich noch eine ganze Weile dauern, bis der kommt, der Text über die Geschichte der Tess von der Tess aus gesehen, weil ich da auch was Neues ausprobieren will, und wenn das nicht klappt, kommt er vielleicht gar nicht. Deshalb schreibe ich das Angekündigte heute; ich muss ja nicht so in die Einzelheiten gehen wie in dem angefangenen Text von gestern. – Mittlerweile stehe ich an der Kasse bei Aldi. Die Frau vor mir nimmt einen der roten Warentrenner in die Hand und mit weit ausholender Armbewegung haut sie ihn auf das Warenförderband - mit einer solchen Wucht, dass ich zusammenzucke bei dem Schlag, den es tut, obwohl ich ihn habe kommen sehen. – Da ich mit zunehmendem Alter immer leutseliger werde und ich das noch nie erlebt habe, dass jemand so aus sich heraus geht mit einem Warentrenner, sage ich erstaunt: Das war jetzt aber energisch. - Worauf sie erwidert: Halt´s Maul! und sich von mir abwendet. – Oh là, là, sage ich entgeistert.Worauf sie nichts mehr sagt und ich registriere, wie die Leute an der Kasse nebenan sich bedeutungsvolle Blicke zuwerfen wegen des Auftritts der Frau. Der Frau vor mir. Rückenansicht der Frau: Gedrungene Gestalt. Schwarze Haare; zu schwarz, um nicht gefärbt zu sein. Schwarzer Mantel; Kunstfaser. Sehr breite Schultern. Sehr breiter Hintern. Sehr kräftige Waden. Schwarze Strümpfe. Hellbraune Stiefel. Ist ein Look. Bob Frisur. Zum Haaransatz im Nacken hin zugespitzt geschnitten. Frisch geschnitten. Vielleicht ist sie heute beim Friseur gewesen. Halt´s Maul ist eine harte Ansprache. RTL-RTL2-Zuschauerin? Reality-TV? Casting-Shows? Dieter Bohlen? Ihr Einkauf der typische Einkauf von jemand, der sonst höherpreisig anderswo einkauft und bei Aldi zum Beispiel nur Olivenöl, ein ganzes Gebinde Milch und Süßwaren. Die Aggressivität von dicken Frauen, denke ich wieder mal und weiß zugleich, dass sich die Behauptung eines solchen Zusammenhangs nicht aufrechterhalten lässt, weil es auch aggressive dünne Frauen gibt, gerade genug. Inzwischen packt die dicke Frau vor mir ihre Einkäufe ein und steht mir dabei gegenüber. Sie ist Ende 30 und hat ein fleischiges Gesicht. Kein unsympathisches Gesicht. Sie bemerkt, dass ich sie ansehe. Sie erwidert meinen Blick. Wir schauen uns an. Mit verschlossenen Mienen. Sie schaut zuerst weg. Aber nicht gleich. Während ich meine Sachen einpacke und zahle, beobachte ich, dass sie am Ausgang des Supermarkts von einem kleinen Jungen erwartet wird, der sich beschwert, dass es so lange gedauert hat. Ein Mann ist auch dabei. Ihr Mann? Ihr Freund? Vater des Kindes? Die beiden verheiratet? Getrennt? Geschieden? Verbringen das Wochenende zusammen wegen des Jungen? Oder eine ganz normale Kleinfamilie? – Halt´s Maul! Ob sie mit ihrem Sohn auch so spricht in der Wohnküche? Der Junge macht nicht den Eindruck, als ob er eine schwere Kindheit hätte. – Nach Reichelt, beim Verlassen der Kaiser-Wilhelm-Passage überlege ich mir, was eigentlich so hart war an der Ansprache? Das mit dem Maulhalten oder das Duzen? Hätte ich mich weniger hart und vulgär angesprochen gefühlt, wenn sie gesagt hätte: Halten Sie Ihr Maul? – Wird das überhaupt gesagt? Halten Sie Ihr Maul? - Nein, das sagt man nicht. Oder? Ich muss daran denken, wie ich einmal zu einer mir vertrauten, aber mir nicht nahestehenden Frau Arschloch gesagt habe und gleich darauf gemerkt habe, dass das nicht geht. Dass das nicht vorgesehen ist im Sprachgebrauch, Arschloch zu sagen zu einer Frau. Aber was sagt man dann zu einer Frau in einer Situation, in der man zu einem Mann Arschloch sagen würde? – Andere Frage: Hätte ich zu der dicken Frau gerne Arschloch gesagt? – Nein.  – Doch. Sonst würde ich jetzt nicht über den Wortgebrauch von Arschloch gegenüber Frauen nachdenken. - Aber ich bin doch nur darauf gekommen, weil ich über den Sprachgebrauch von Halt´s Maul nachgedacht habe. - Eben. Weil sie Halt´s Maul zu mir gesagt hat, hätte ich eigentlich gerne mit Arschloch geantwortet. Hätte ich es nur mal gemacht. Was dann los gewesen wäre! - Aber man sagt zu Frauen nun mal nicht Arschloch. Das ist nicht Sprachgebrauch.