Sonntag, 31. Oktober 2010
Gespenster
Bestgeöffneter Lidl am U-und-S-Bahnhof Innsbrucker Platz. Es ist heute deutlich mehr los als sonst am Sonntagnachmittag. Nähe Obst-und-Gemüse-Stand. Satz: Das ist ja wie im Kriegszustand. Wer hat das gesagt? Eine schlecht gelaunte mittelalte Frau, die das zu sich selbst gesagt hat. Und sie weiß wahrscheinlich gar nicht, wie recht sie damit hat. Dass es heute noch voller ist als sonst, liegt nämlich daran, dass vielen Leuten heute erst eingefallen ist, dass am Abend wegen Halloween vermummte Kinder vor ihrer Tür stehen werden und Süßigkeiten ausgehändigt bekommen wollen. Und das kommt wiederum daher, dass der Irak 1991 Kuwait überfallen hat, im Jahr darauf eine alliierte Armee unter Führung der USA das Land befreite und dass in Deutschland, das keinen einzigen Soldaten an den Golf schickte, eine Hysterie ausbrach, die dazu führte, dass der Karneval abgesagt wurde. Das wiederum brachte der deutschen Verkleidungsindustrie einen Umsatzeinbruch, womit sie sich nicht abfinden wollte, und führte zur Gründung der Fachgruppe Karneval im deutschen Verband der Spielwarenindustrie. Das hört sich an wie Realsatire, die sogenannte Fachgruppe erwies sich jedoch als äußerst schlagkräftiges Unternehmen, dem es gelungen ist, weite Teile der Bevölkerung so zu formatieren, dass die Betroffenen sich nicht mehr daran erinnern können, wie es war, als der 31. Oktober nichts mit Verkleiden und Süßigkeiten zu tun hatte. Bitte lesen den Selbstdarstellungstext der Fachgruppe - ab zweitem Absatz. - Auf dem Rückweg vom Innsbrucker Platz hatte ich eine schlecht gelaunte Vision vom Totalitarismus des Marketing und davon, wie sich die Population unter der Führung von älteren Männern wie mir davon befreit, indem sie eigenes - kostenfreies - Brauchtum generiert. Zum Beispiel den Brauch, am Abend des 31. Oktobers in selbstgebastelten Gespensterklamotten loszuziehen und verkleidete Kinder zu überfallen, um ihnen ihre Süßigkeiten abzunehmen. - Während ich diese Vision in einem schlecht gelaunten Text umständlich darstelle, läutet es an meiner Wohnungtür. - Drei mir persönlich bekannte kleine Gespenster mit Vampirgebissen werden von mir mit dem Satz begrüßt, den ich jedes Jahr sage: Ihr seht ja furchterregend aus. Darauf erhält jedes Gespenst eine Tüte Haribo Colorado ausgehändigt. Vom schon etwas älteren Mädchen, das die Gespenster begleitet, sagt eines der Gespenster: Die will nichts. - Eine halbe Stunde später läutet ein mir persönlich unbekanntes winziges Einzelgespenst (seine Begleitung hat sich versteckt). Das Gespenst sieht aus wie in einem Cartoon. Es ist ein vollkommenes Bilderwitz-Gespenst. Und wenn das nicht alles so geschäftsmäßig wäre mit Süßes-oder-Saures-sagen, Überreichen der Haribo-Tüte und grußlos weg, dann hätte ich bestimmt auch gelacht. - Danach scheint es vorbei zu sein. Ich habe noch eine Tüte Colorado. Wie letztes Jahr werde ich sie wahrscheinlich nun erst monatelang rumliegen lassen und dann irgendwann über sie herfallen und mich hinterher wieder wundern, warum mir nicht schlecht ist, obwohl ich ihren Inhalt komplett aufgegessen habe. Warum wurde mir als Kind schlecht von zu vielen Süßigkeiten und heute wird mir höchstens vorübergehend unbehaglich? Ist das ein gutes Zeichen oder ein schlechtes? - Gegen 20 Uhr läutet es noch mal. Ich habe jetzt eigentlich keine Lust mehr. Nur wenn es ein zweites Mal läutet, werde ich zur Tür gehen. Es läutet ein zweites Mal. Zwei Mädchen aus dem Haus. Vampire. Ihr seht ja schön aus, sage ich ehrlich entzückt und bedaure, dass ich nur noch eine Tüte Haribo habe. - Die Vampire sagen unisono: Wir teilen. - Ich sage: Einen Moment! und gehe in die Küche zu meinen Schokoladenreserven. Weil ihr so schön ausseht, kriegt ihr noch was Zweites, sage ich und stecke noch eine Tafel Ritter Sport Schokolade in den mir hingehaltenen Beutel. - Die beiden Vampire sagen unisono: Danke! und verabschieden sich mit Augenaufschlag. - Danach überarbeite ich meinen viel zu langen, schlecht gelaunten Text und schreibe am Ende hinein, dass mir Halloween dieses Jahr eigentlich gefallen hat. Inzwischen bin ich noch viel schlechter gelaunt und habe den schlecht gelaunten Text auf das Nötigste zusammengestrichen.