Samstag, 3. September 2011

Borchert 1



Schwitters    Leporello   2010

Jahrgang 43. Künstlerfamilie. Vater Kunstprofessor. Die Tochter Legasthenikerin: Ich war zu doof für die Schule. Eines Tages macht der Vater mit ihr einen Test. Er stellt ein neues Buch in seinen Bücherschrank, dann ruft er Uliane in sein Arbeitszimmer. Sie bemerkt sofort, dass etwas verändert ist und geht zum Bücherschrank und deutet auf das neue Buch. Sie sieht mehr als andere sehen. Nicht doof: Sonderbegabung. Buchbinderlehre. Sie lernt Thomas Schelenz kennen. Familienbetrieb Möller + Schelenz. Buchbinderei in der dritten Generation. Interessiert sie nicht: Ich wollte einen Intellektuellen haben. Kriegt sie. Kunstakademie. Studium der Malerei. 1968 und die 68er. Als sie ihr Studium beendet hat, gilt die Losung: Den Pinsel niederlegen! Sie tritt der SEW (Sozialistische Einheitspartei Westberlin) bei und arbeitet als Lehrerin in Heimen für schwererziehbare Kinder. Aber den Pinsel hat sie nie niedergelegt. Sie malt weiter. Auch das Buchbinden hat sie nie aufgegeben. Und 1996 trifft sie Thomas Schelenz wieder. Dieses Mal wird es was mit den beiden. Vier Jahre späterer erkrankt sie an einer Stoffwechselstörung. Autoimmunreaktion. Schwere Lähmungserscheinungen an Armen und Beinen. Drei Monate sitzt sie im Rollstuhl. Das ist jetzt die Prüfung für uns, denkt sie. Sie glaubt nicht, dass er bei ihr bleibt. Aber dann kommt er jeden Tag zu ihr in die Klinik. Thomas Schelenz bleibt. 2003 heiraten sie.

Mädchen am Waschbecken
Meisterschülerarbeit 1969

1979 USA-Reise. In Chicago könnte sie leben: Das ist eine Stadt so schnell und so hart und hässlich wie Berlin. New York: Metallstadt. Überall der Rost. Lieber nicht auf die Gullys treten, aus Angst einzubrechen. Kalifornien: der Reichtum, das schöne Leben und nur wenige Schritte davon entfernt Elend, wie sie noch keines gesehen hat. Grand Canyon: Da sitzt sie in der Sonne und zeichnet. Naturerlebnis: Da habe ich Demut empfunden in diesem Moment. Zurück in Berlin weiß sie: Ich kann die Welt nicht verändern. Ich kann nur mich ändern. Schluss mit der Politik. Was man damals so nannte: ideologische Verranntheit und der kollektive Schaden, den sie bei einer ganzen Generation von Intellektuellen und Künstlern angerichtet hat. Sie schafft den Absprung. Aber wohin? Zusammenbruch. Schmerzhafte Neuerfindung. Trennung von ihrem damaligen Mann. Vier Jahre Therapie. Und dann, 1983, hat sie es wirklich geschafft. Ab jetzt arbeitet sie als freie Künstlerin. Und sie hat ihre zweite Leidenschaft entdeckt: künstlerische Begabungen zu erkennen, zu fördern und auszubilden.

Sie wünschte sich: Ich möchte so gern Fernsehansagerin sein. 
Als am nächsten Morgen die Mutter sie geweckt hatte, wurde Petra beim Frühstück von ihr gefragt: In welchem Studio bist du denn heute. Und Petra antwortete: Studio sechs. Als Petra das von sich hörte, wurde sie sehr gespannt. 
Petra. Ein Märchen von Ronald M. Schernikau mit Graphiken von Uliane Borchert; Edition Mariannenpresse Berlin 1984
Bilder: © Uliane Borchert