Mittwoch, 14. September 2011

Gänseblümchen



Daisies   Acryl auf Leinwand  120 x 100   2009

Die ausgestellten Bilder haben mir nicht gefallen, bis auf eines: Daisies. Überdimensionierte Gänseblümchen schießen wie Raketen aus dem Bildrand von links unten nach rechts oben und davor stehen zwei junge Frauen und gucken auf die Gänseblümchen wie auf ein Grab. Sie stehen auch da wie vor einem Grab. Wenn sie diese Wirkung gewollt hat, dann ist sie gut, die Künstlerin, denke ich. Und die anderen Bilder? Vielleicht sehe ich es auch deshalb so streng, weil ich gerade drei Wochen lang mit den Bildern von Uliane gelebt habe. Gemessen an denen sind diese Bilder – wie es nennen? – flüchtig gemalt. Schnappschüsse, Momentaufnahmen: ein Blick, ein Einfall, das kann auch mal ein Kalauer sein, alles wird zugelassen, alles ist erlaubt. Auf die Idee kommt es an, auf das Gesehene. Das wird festgehalten. Und dann rasch weiter zum nächsten Moment, Blick, Einfall. Flüchtig und unbeschwert sind die Bilder. Wer will, der kann, und alles geht.

Ain´t No Bunny
Acryl auf Leinwand 120 x 100 cm  2010


Sonntagnachmittag. Die Künstlerin sitzt auf einer Bank vor der Galerie und liest den neuen Spiegel. Meraner Straße 10. Galerie KunstRaum Ko. Die Künstlerin ist Sabine Baer. Sie erzählt mir, dass es die Galerie seit vier Jahren gibt, an dieser Adresse aber erst seit einem Jahr. Die Räume standen leer, sie können sie mietfrei nutzen, müssen nur die Betriebskosten zahlen, diese Abmachung gilt allerdings immer nur für einen Monat. Sie, das sind Sabine Baer und ihre drei Partner, mit denen sie die Galerie betreibt. Einer von ihnen kommt vorbei, um Sabine Baer Gesellschaft zu leisten. Sie spricht darüber, dass sie in der Galerie auch Arbeiten anderer Maler ausstellen. Wie bedeutend das als Kunst ist, was die machen, interessiert sie dabei nicht. Wichtig ist, dass uns die Arbeiten gefallen. Was Kunst ist, das bestimmen wir, sagt der Partner Sabine Baers und beide lachen.

Rosengartenhäuschen
Acryl auf Leinwand    100 x 120 cm    2009

Fishful Thinking
Acryl auf Baumwolle  100 x 70 cm   2010


Auf der Website der Galerie bemerke ich, dass keiner der Partner den unter Berliner Künstlern verbreiteten UDK- oder einen anderen Akademie-Abschluss hat; einer war Gasthörer an der UDK, die anderen sind Autodidakten. Sabine Baer hat nach dem Abitur überlegt, ob sie sich an einer Kunstakademie bewerben soll, aber dann hat sie sich gedacht, davon kann man doch nicht leben und malen kann ich auch so, und da hat sie eine Lehre als Werbekauffrau gemacht und insgesamt sechs Jahre in dem Beruf gearbeitet. Danach hat sie ihre Kinder bekommen, innerhalb von 7 Jahren vier Töchter, die jüngste jetzt 13, die Älteste 20, und hat während dessen nie aufgehört zu malen. Die vier Kinder, von denen ich in ihrer Kurz-Bio in ihrem Blog gelesen habe, sind einer der Gründe, warum ich beschlossen habe über Sabine Baer zu schreiben und mich vergangenen Samstag mit ihr verabredet habe in der Meraner Straße. Dabei lerne ich Herrn Baer kennen und später werde ich denken, dass Herr Baer meinetwegen hier ist. Denn eigentlich hat Herr Baer Besseres zu tun am Samstagnachmittag. Während der drei Stunden, in denen seine Frau in der Galerie ist, könnte er zum Beispiel mit einer seiner Töchter etwas unternehmen, die ihren Vater auch mal ganz für sich haben wollen; unter der Woche ist er nämlich in Essen, wo er in leitender Position bei einer Immobilienfirma arbeitet. Jetzt sitzt er mit uns vor der Galerie, die er sarkastisch als Goldgrube bezeichnet hat, als wir uns begrüßten, macht an seinem Handy rum, bereinigt wahrscheinlich sein Telefonbuch und hört uns zu oder auch nicht. Um etwas Gutes zu sagen, spreche ich über das Bild Daisies. Sabine Baer sagt, dass sie das, was ich in dem Bild sehe, genau so beabsichtigt hat. Über Fishful Thinking sagt sie: Klar, das ist ein Kalauer. Mehr muss sie nicht sagen. Dass Kalauer auch Spaß machen, braucht man gerade mir nicht zu erklären. Wir kommen zum Mittelpunkt der Ausstellung: den 12 Frauenporträts im vorderen Raum. Das ist mir erst im Nachhinein klar geworden, dass das immer die gleiche Frau ist, nämlich Camille Claudel, über die Sabine Baer auch Textmaterial  ausgelegt hat. Camille Claudels Leben in Kurzfassung: Sie hatte ein Riesentalent, war Schülerin und Geliebte von Auguste Rodin, hat Anerkennung gefunden als Bildhauerin, kannte die richtigen Leute in Paris, war zum Beispiel kurz mit Claude Debussy liiert, ist dann aber Anfang 30 an einer paranoischen Psychose erkrankt (hat sich u.a. eingebildet, der auf sie neidische Rodin wolle sie vergiften), war wegen ihrer Wahnvorstellungen zu nichts mehr in der Lage, ist verwahrlost und verelendet und verbrachte die letzten 32 Jahre ihres Lebens in geschlossenen Anstalten. Heute wäre ein Fall wie der ihre behandelbar, meint Sabine Baer, die alles über Camille Claudel gelesen hat, was sie in die Finger kriegen konnte, und jahrelang sich auch zeichnerisch mit ihr beschäftigte. Bis sie vor vier Jahren beschlossen hat, dieser Obsession ein Gesicht zu geben, wie sie sagt und dann muss sie lachen über diese Formulierung. Denn sie trifft es schon, aber genau müsste es heißen: bis sie ihrer Obsession 12 Gesichter gegeben hat. Die 12 Bilder, die in der Ausstellung zu sehen sind. Alle gemalt nach der gleichen Vorlage, einem Foto, das aufgenommen wurde, als Camille 20 Jahre alt war. Annäherungsversuche ist der Titel des Zyklus. 12 Versuche, die Faszination zu ergründen, die vom Gesicht Camille Claudels auf diesem Foto ausgeht. Jedes Bild auch eine Momentaufnahme der jeweiligen Stimmung, in der Sabine Baer es gemalt hat, der Vorstellungen und Gedanken, die ihr währenddessen durch den Kopf gingen. Jedes Bild ein anderer Blick auf das Foto und das Gesicht, das es zeigt. – Schöner Ansatz! Und jetzt weiß ich, was wir machen können: Wir treffen uns noch mal und dann schauen wir uns die 12 Bilder zusammen an und reden darüber. – Wir verabreden uns für Mittwoch, also heute, ich mache noch Fotos von Sabine Baer und dabei komme ich ins Gespräch mit Herrn Baer. Er ist aus Wuppertal und ohne es darauf anzulegen, nur durch meine Geschwätzigkeit, gewinne ich seine Sympathie. Ich erzähle, dass ich, seit ich 1974 den Wenders-Film Alice in den Städten gesehen habe, Wuppertal besuchen möchte, aber da ich das nie geschafft habe und voraussichtlich auch nicht mehr schaffen werde, freue ich mich jedes Mal, wenn ich jemanden kennenlerne, der aus Wuppertal kommt. – Er gewinnt meine Sympathie, als mir klar wird, dass er nur hier ist, um seiner Frau zu helfen, falls es mit mir schwierig wird. Frau Baer ist mir schon sympathisch, sie wird mir noch sympathischer, als sie sagt: Wenn wir nicht die vier Kinder hätten, dann hätten wir uns bestimmt irgendwann miteinander gelangweilt. Herr Baer nickt darauf zustimmend und wird mir dadurch noch sympathischer. Die Baers leben mit ihren Kindern in Zehlendorf. Am Montag beginne ich einen Text, den ich nicht zu Ende schreibe. Der erste Satz des Textes lautet: Das Beste, was mir am Wochenende passieren konnte, war das bürgerliche Paar aus Zehlendorf. 

Grüngrüngrün sind alle meine Kleider ...
Acryl auf Baumwolle 100 x 150 cm  2008

Rosengartenbegräbnis
Acryl auf Baumwolle 130 x 100 cm  2008

Grüngrüngrün ... und Rosengartenbegräbnis aus Sabine Baers Rosegarden´s Blog.
Bilder: © Sabine Baer