Weil ich ihn mag, hat er die Macht, mich wütend machen zu können. Einmal, im Schwimmbecken des Stadtbad Schöneberg, habe ich ihn am Arm gepackt und zu ihm gesagt: Wenn du das noch mal machst, dann haue ich dir eine auf die Nuss! Was er gemacht hatte, ist jetzt nicht wichtig. Er hatte jedenfalls keine Ahnung, was es war, oder er tat so, als ob er es nicht wüsste. Das war vor fünf Jahren und es war das erste und einzige Mal in meinem Erwachsenenleben, dass ich jemandem mit Gewalt gedroht habe. Damals wusste ich noch nicht, dass er als Jugendlicher Karate gemacht hat. Oder Taekwondo? In einer der beiden Kampfsportarten hat er es zu einem schwarzen Gürtel gebracht, hat er mir einmal erzählt. Und als er dann mit 17 oder 18 Jahren sich der Kunst zugewandt hat, da hat er den Kampfsport aufgegeben, weil er der Auffassung war, dass Kunst und Kampfsport nicht zusammenpassen. – Frage: Hat er mir das im Vertrauen erzählt oder kann ich das hier bedenkenlos weitererzählen, da er es jedem erzählt? So wie er jedem erzählt von seinen Lebensverhältnissen und so wie er nicht nur mir, sondern auch Uliane erzählt hat von der Arroganz eines Maler-Kollegen und wie er der begegnet ist mit feiner Selbstironie, die so fein war, dass der Kollege sie gar nicht mitgekriegt hat. Darüber habe ich geschrieben, ohne Bedenken, in bester Absicht: zu seiner Ehrenrettung. Das war ihm dann aber nicht recht, dass das so breitgetreten wird mit dem Kollegen. Und auf keinen Fall hätte ich in diesem Zusammenhang auf seine Lebensverhältnisse hinweisen dürfen, weil ihm daraus existenzielle Nachteile erwachsen könnten, wenn darüber zu lesen ist in meinem Blog. Was nach Ansicht Ulianes, eine Expertin für seine Art von Lebensverhältnissen, eine unbegründete Befürchtung ist und ein Verhalten, das sie als kleinkariert bezeichnet. Das die Vorgeschichte.
Gestern am frühen Abend telefonieren wir. Er beschwert sich darüber, dass ich weitergegeben habe, was er mir im Vertrauen erzählt hätte. Und das ärgert mich, dass er mir nun moralisch kommt mit einem aus der Luft gegriffenen Vorwurf. Denn er hat nie auch nur angedeutet, dass seine Lebensverhältnisse der Geheimhaltung unterliegen, er hat mir mit keinem Wort zu verstehen gegeben, dass was er mir darüber erzählt hat, vertraulich zu behandeln ist. Und von mir aus wäre ich nie darauf gekommen, da er das, was er mir erzählt hat, jedem erzählt, der es hören will, und warum auch nicht, da jeder es wissen kann. Aber egal, habe ich dann gestern zu ihm gesagt: Du bist ein ängstlicher Mensch. Ich bin auch ein ängstlicher Mensch. Wir sehen Gefahren, wo keine sind. Deshalb komme ich dir entgegen. Ich streiche im Posting die Hinweise auf deine Lebensverhältnisse. - Das hatte er nicht erwartet. Das fand er gut. - Aber, ganz so einfach ist es nicht: Wenn ich in einem Text etwas streiche, dann muss ich den Lesern erklären, warum. Deshalb werde ich eine Fußnote machen mit dem Verweis auf den Text, den ich heute Nachmittag geschrieben habe und in dem ich berichte, wie es zu den Streichungen gekommen ist. – Was?! Vertraulich, vertraulich! Und unmöglich findet er das. – Ich erkläre ihm meinen Blog: Wenn du dir mal die Mühe gemacht hättest, in meinen Blog reinzulesen - was du nicht getan hast, weil du dich nicht interessierst für das, was ich mache -, dann wüsstest du, dass ich über mein Leben schreibe, über alles, was in meinem Leben passiert. Und wenn ich morgens von dir eine Mail bekomme, die mir den ganzen Vormittag nicht aus dem Kopf geht und ich sie deshalb schließlich an Uliane weiterleite, um mir Rat bei ihr zu holen, dann schreibe ich am Nachmittag darüber und am Abend poste ich das. – Ich finde das unmöglich, dass du meine Mail Uliane zu lesen gibst, empört er sich. Die Mail sei vertraulich. Und deshalb sei es auch unmöglich, dass ich über die Mail schreibe. – Ich entgegne, dass ich seine Mail natürlich nicht wörtlich wiedergebe. - Er gibt einen Laut der Missbilligung von sich, der besagt, dass er es unmöglich findet, dass ich ihm jetzt mit solchen Spitzfindigkeiten komme. – Ganz sachlich und noch in ruhigem Ton wiederhole ich: Ich habe deine Mail nicht wörtlich zitiert in meinem Text von heute Nachmittag. Dann werde ich laut: Ich habe über deine Mail geschrieben. Das kann ich tun. Und jetzt brülle ich: Denn wenn ich deine Mail gelesen habe, dann ist Deine Mail in meinem Kopf. Und über das, was in meinem Kopf ist, Darüber kann ich schreiben - darüber kann ich schreiben, was ich will, so lange ich will und so viel ich will, hätte ich noch gesagt, aber da hatte ich auf einmal das Gefühl, dass er nicht mehr da ist, und so war es auch: Er hatte aufgelegt.
Wann habe ich zum letzten Mal jemanden so angebrüllt? Da muss ich weit zurückgehen in die schöne Zeit, als meine Katze noch lebte. Meine Katze habe ich einmal so angebrüllt. Darf man eine Katze anbrüllen? Auf keinen Fall. Aber so wie es mir damals nicht leid getan hat, so hat es mir auch gestern Abend bei ihm nicht leid getan. Verwundert war ich über mich, dass ich so ausgerastet bin, und später habe ich mich geärgert, dass ich den Aufruhr, den ich in mir hatte nach dem Ausrasten nicht einfach ausknipsen konnte, so wie er zuvor sein Telefon ausgeschaltet hatte. Doch trotz des Aufruhrs war ich nicht mehr wütend auf ihn. Nicht einmal mehr geärgert habe ich mich über ihn. Nur lästig war mir die ganze Geschichte und ich wollte sie hinter mich bringen. Ich habe versucht, ihn anzurufen. Zweimal. Er ist natürlich nicht rangegangen. Beim zweiten Mal habe ich auf seine Mailbox gesprochen: Es wird nicht besser dadurch, dass wir nicht darüber reden. Lass uns weiter verhandeln und die Geschichte zu einem guten Ende bringen. Du selbst bestimmst, welche Rolle du darin spielst ... . Zum Schluss habe ich noch gesagt, dass ich weiß, dass er nicht zurückrufen wird. Danach habe ich mich nicht gefragt, warum ich dann überhaupt auf seine Mailbox gesprochen habe, und ich habe alle Impulse, über ihn zu urteilen, unterdrückt. Doch den Aufruhr hatte ich immer noch in mir. Weil ich nichts Unbesonnenes tun wollte, habe ich beschlossen, den Text über seine Mail erst mal nicht zu posten, und war dann froh, dass ich nachmittags die Fotos von Oleg und der Tasche der Kostümbildnerin aus Zürich gemacht hatte. Ich habe einen Text über sie und ihre Tasche geschrieben und danach war für mich wieder alles gut. Obwohl der Aufruhr immer noch nicht ganz weg war.