Unterwegs auf der Suche nach einer Bildgeschichte und es passiert mir keine. Bei Öz Gida, wo es um 15.20 Uhr heute Nachmittag nur so wimmelt von Bildern und Geschichten, lasse ich meinen Fotoapparat lieber in der Hosentasche. Ich müsste den Besitzer um Erlaubnis fragen, wenn ich hier fotografieren wollte. Wäre eine gute Gelegenheit, den Mann mal kennenzulernen und hier vorzustellen. Doch das hat noch Zeit. Zuerst will ich die Zwillinge rumkriegen, sich fotografieren zu lassen von mir. Die eine Schwester saß heute an einer der hinteren Kassen (Ausgang Parkplatz), die andere vorne (Ausgang Hauptstraße). Inzwischen kann ich sie unterscheiden. Es ist ganz einfach: Die eine hat einen kleinen Brillanten über dem rechten Nasenflügel, die andere einen über dem linken Nasenflügel. Sie habe ich neulich gefragt, ob ihre Schwester und sie eineiige Zwillinge sind, als ob man das nicht sehen könnte, und sie hat mich neulich angeschnauzt, weil ich meine Tüte mit den Pfirsichen auf den Barcode Scanner der Kasse gelegt habe, was ein Kunde sowieso nicht tun sollte und erst recht nicht, wenn der Zahlungsvorgang des vorigen Kunden noch nicht abgeschlossen ist. Mit ihr bin ich also vertraut. Sie werde ich fragen. Ich brauche dazu nur den richtigen Einstieg. Das wird kein Satz sein, den ich mir vorher überlegt habe. Das wird etwas sein wie das letzten Mittwoch, als ich die Goltzstraße lang ging in der Hoffnung, dass die Frau vom Chiton vor ihrem Laden steht, eine Zigarette raucht und ich sie ansprechen kann darauf, dass ich über den Laden, den sie mit ihrem Mann macht, schreiben möchte. In kein Schaufenster im Kiez habe ich so oft geguckt wie in das Schaufenster des Chiton. Wegen der ausgestellten Brautkleid-Modelle, wegen der eleganten Erscheinung der Frau hinter dem Ladentisch, wegen der Anprobe-Szenen mit Kundinnen. Seit 16 Jahren gibt es den Laden, seit 14 Jahren gucke ich in das Schaufenster, seit einem halben Jahr plane ich, über den Laden zu schreiben. Schon zweimal stand die Frau rauchend draußen, als ich vorbeiging, und ich habe sie nicht angesprochen, weil ich mich nicht getraut habe, aus Angst vor einer Abfuhr, die es nicht geben darf, denn ich will unbedingt über diesen Laden schreiben. Wegen der Ausstrahlung, die der Laden hat. Was ist das für eine Ausstrahlung? Das will ich rausfinden. – Wie fädele ich das ein? Indem ich am Dienstag, ausgerechnet an dem Tag, an dem ich so menschenscheu bin, die Goltzstraße runter gehe, schon von weitem bemerke, dass das Gerüst abgebaut wird an dem Haus, in dem sich der Laden befindet, als nächstes sehe, dass die Frau vor dem Laden steht und raucht, zu ihr im Vorbeigehen sage, das ist ja gut für Sie, dass das Gerüst jetzt endlich wegkommt, und dann ist es nur noch einfach. Sie sagt: Ja, das ist gut. Gut nicht nur, weil sie jetzt wieder Tageslicht in dem Laden haben, gut auch wegen der Laufkundschaft, von der sie jetzt wieder besser wahrgenommen werden. Das hatte ich nicht erwartet, dass sie auch Laufkundschaft haben. Oh doch. Und nun reden wir über die Kundschaft für maßgefertigte Brautkleider in der Goltzstraße. Sie sagt: Wir haben schon den halben Kiez verheiratet. - Ach ja. So redet sie. So ist sie. So unkompliziert. Ich erzähle von meinem Blog. Dass ich angefangen habe, über Läden im Kiez zu schreiben. Und dass ich wieder aufgehört habe damit, weil das Thema nicht losgegangen ist; nicht mal die Ladenbesitzer haben sich dafür interessiert oder sie haben so getan, als ob sie sich nicht dafür interessierten. Während ich bald gemerkt habe, dass es gar nicht so viele Läden im Kiez gibt, die mich interessieren. Aber über einen Laden möchte ich noch schreiben. Ihren. Deshalb würde ich gerne mal mit ihr ausführlich reden. Sie sagt, dass sie in ihrer Mittagspause immer in die Salumeria an der Ecke geht, weil so weit der Radius ihres schnurlosen Telefons reicht. Dort können wir uns treffen. Ich sage, dass ich sie Anfang nächster Woche anrufe, um einen Termin auszumachen, und nenne meinen Namen, sage: Wolfgang, und sie sagt: Friederike. So geht das. So wird es auch mit den Zwillingen gehen. Ich brauche nur zu warten, bis sich ein Einstieg findet wie der über das Gerüst. Dann wird es ganz einfach sein.
Chiton ist Altgriechisch und bezeichnet das Unterkleid, das Männer und Frauen im alten Griechenland trugen. Der Mann Friederikes ist Grieche.
Chiton ist Altgriechisch und bezeichnet das Unterkleid, das Männer und Frauen im alten Griechenland trugen. Der Mann Friederikes ist Grieche.