Meine Lieblingsschuhverkäuferin heißt Maren. Sie hat vor einem Jahr mit dem Rauchen aufgehört. Da habe ich sie getroffen auf dem Apostel-Paulus-Kirchplatz, wo sie ihren Hund ausführte, und sie war so aggressiv, dass sie nicht wusste, wohin damit, weil es so viele Arschlöcher auch wieder nicht gibt, wie sie gerne zur Sau gemacht hätte. Seither haben wir uns nicht mehr gesehen. Letzte Woche war sie nicht da, als ich so manisch hinter Flip-Flops her war. Dass es bei Oxford keine gibt, weiß ich schon von ihrer Kollegin. Aber vielleicht hat Maren eine Idee, wo ich welche kriegen könnte, wenn bei Shoeting auch nichts ist. Da habe ich nämlich letzte Woche noch nicht gefragt. Da will ich gerade hin. Aber jetzt erst mal Maren. Im Verkaufsgespräch mit einer Dame in meinem Alter. Ich gucke mir derweil das Sandalen-Angebot an. Nur so. Maren ruft herüber: Für Sandalen ist es zu spät, da hättest du im März kommen müssen. Heißt: Meine Größe – Allerweltsschuhgröße 43 – ausverkauft. Ich nehme einen sehr schönen dunkelgrauen Espadrille in die Hand und überlege schon, ob ich mir Espadrilles kaufen soll (24 Euro 50) statt Flip-Flops. Da ruft Maren herüber: Die sind nichts für dich. – Sofort stelle ich den Espadrille zurück, denn auf Maren höre ich. Aber wen interessiert das? – Kompakter! Rauchen. Hast du es geschafft aufzuhören? Hat sie. Und wie lange war es so schlimm wie letztes Jahr auf dem Kirchplatz? Halbes Jahr. Und jetzt gut? Zehn Kilo zugenommen. Sie zeigt mir ihren Bauch und sagt Rubens. Oder hat sie Tizian gesagt? Einen Tizian- oder Rubenskörper hat sie jetzt, meint sie. Flip-Flops. Haben sie keine. Weiß ich. Deshalb wollte ich dich fragen … . Maren unterbricht mich. Maren ist schnell. Maren ist patent. Maren sagt Hauptgeschäft und ist schon dabei dort anzurufen. Anruf, Rückruf. Die Kollegin dort muss erst ein Regal hochklettern, um zu gucken: Flip-Flops. Schwarz. Größe 43. – Ob ich das Buch von Hessel kenne? - Wie? - Stéphane Hessel, Empört euch! Gelesen? - Nein, ich kann nicht lesen, würde ich zu jeder anderen sagen. Aber nicht zu Maren. Ich sage, nein, und weil Maren Maren ist, sage ich nicht: Habe ich von gehört. Brauche ich nicht. Ich bin schon empört. – Maren erklärt mir, worum es geht. Blick nach draußen. Das Kind da draußen. Da steht kein Kind, es ist nur ein Beispiel. Maren: Gehe ich achtlos an dem Kind vorbei? Oder schaue ich hin, mache ich mir was daraus? Sich was daraus machen ist natürlich schwerer, sagt sie. Klar, sage ich. Im Hauptgeschäft haben sie noch ein Paar schwarze Flip-Flops in meiner Größe. Sie schicken sie her. Morgen Abend kann ich sie mir abholen. Maren! Erzählt von Stéphane Hessel. In der Résistance gekämpft. Lager Buchenwald überlebt, nicht resigniert. Die UNO mitgegründet. Menschenrechte. Sich als Jude für die Palästinenser eingesetzt. Groß- und Bildungsbürger. Aber er trägt das nicht vor sich her. Schreibt so einfach, so verständlich. Soll ich lesen. Stéphane Hessel. Empört euch! Der Dame, die zusammen mit mir den Laden verlässt, hat Maren das Buch auch empfohlen. Zu dritt stehen wir an der offenen Ladentür. Ich höre den beiden Frauen zu. Sage kein Wort. Das will was heißen. Völlig unwirkliche Situation. Aufhören, sich alles gefallen zu lassen. Revolution. Aber friedlich. Gewaltlos. Geduld. Sich nicht beirren lassen. Es muss sich etwas ändern. Selbst ihre Tochter, die dreißig ist, meint, dass es so nicht mehr weitergehen kann, sagt die Dame in meinem Alter. Revolutionäre Zelle im Schuhladen. Soll ich mir das Buch kaufen? - Ich bin doch schon im Widerstand.
Zu Shoeting muss ich nun nicht mehr. Ich habe meine Flip-Flops so gut wie sicher. Trotzdem in die Goltzstraße. In die Apfelgalerie. Erdbeeren kaufen und eine Handvoll Kirschen, um sie unterwegs zu essen. Bei Kirschen käme nie jemand auf die Idee, die unreif zu verkaufen und zu sagen: die müssen Sie nur ein paar Tage liegen lassen, dann sind sie reif. Aber mit den Pfirsichen, da können sie es ja machen. Vorbei an einem Schaufenster. Wegen Anonymisierung der jungen Frau, die sich darin gerade zu schaffen macht, nenne ich nicht den Namen des Ladens. Kirschen kauend und Kerne ausspuckend gehe ich weiter. Warum eigentlich? Zurück. Die junge Frau macht sich jetzt nicht mehr im linken, sondern im rechten Schaufenster zu schaffen. Sie spricht dabei mit einer kleinen älteren Frau, die hinter ihr steht. Ich winke der jungen Frau zu. Sie schaut zu mir her und wendet sofort ihren Blick wieder ab. Mit unbewegter Miene. Das ist ein Leserkommentar. Es hat ihr nicht gefallen, was ich über sie geschrieben habe. Sie mir auch nicht. Zweite Chance wäre das jetzt gewesen. Sie will nicht berühmt werden. Weiter, Kirschen essend, Steine ausspuckend. Ist das überhaupt erlaubt, Kirschkerne auf den Bürgersteig spucken? Egal. Gutes Lebensgefühl. Ich könnte in der Akazienbuchhandlung in das Empörungsbuch schauen, bevor ich bei Oguzhan Zigaretten kaufe. Ich könnte das Buch auch kaufen und es Oguzhan geben, nachdem ich es gelesen habe. Oguzhan ist nämlich eine Leseratte. In der Akazienbuchhandlung liegt das Buch von Hessel neben der Kasse. Wird bestimmt gekauft wie blöd, sage ich zur Buchhändlerin. Das liegt an der TV-Präsenz des Autors, antwortet sie. Und weil er auf einen Teil seines Honorars verzichtet, ist das Buch so günstig, fügt sie hinzu. 3 Euro 90. Bei nur 32 Seiten Umfang ein angemessener Preis. Warum muss er da auf einen Teil seines Honorars verzichten? Ich lasse die Frage weg, weil ich die gute Stimmung nicht verderben will. Oguzhan. Zigaretten. Das Buch. Wenn ich es durch habe, gebe ich es dir und dann reden wir darüber. – Das sagt er immer, wenn er mir zeigt, was er gerade liest: Wenn ich es durch habe, gebe ich es dir. Macht er dann nie, erwarte ich auch nicht. Doch deshalb überrascht ihn meine Ankündigung nun nicht. Aber der Umfang: Was? Das sind ja nur 32 Seiten! Ich lese normalerweise Bücher von 400 Seiten, sagt er. – Ist doch egal, antworte ich. Du kannst dann ja noch was anderes dazu lesen. – Ich zitiere das, weil ich diese Bemerkung von mir witzig fand und es meine erste witzige Bemerkung seit langer Zeit ist. Aber im Grunde ist es eine ganz sachliche Bemerkung. Denn Oguzhan liest, um sich die Zeit zu vertreiben, während er im Laden steht. Nachdem er Gülcan ans Kaiser-Kiosk abgeben musste, steht er da täglich 14 Stunden lang. Und mit 32 Seiten Text kommt er wirklich nicht weit.