Samstag, 16. Juli 2011

Schutzmann 4

Sie haben gesagt, das System funktioniert nicht. Inwiefern funktioniert es nicht? – Na ja, das System funktioniert schon. Aber in wessen Sinne? – Änderung des Meldegesetzes. Seit 2006 muss, wer sich behördlich anmeldet, keine Bescheinigung des Vermieters mehr vorlegen. Hintergrund: Die wollten die Knäste leer machen, sagt der Schutzmann und erklärt es mir. Wenn Sie eine Straftat begangen haben und OFW sind (ohne festen Wohnsitz) werden Sie automatisch in Haft genommen. Ist hingegen nicht zu erwarten, dass Sie die Straftat gleich wieder begehen und Sie einen festen Wohnsitz nachweisen können, bleiben Sie auf freiem Fuß bis das Verfahren abgeschlossen ist. – Und deshalb wurde der Nachweis eines Mietverhältnisses abgeschafft? - Und die Anmeldung erleichtert. Um Mittel einzusparen bei der Finanzierung der Haftunterbringung. Weil sich nun selbstverständlich jeder, der nicht blöd ist, anmeldet. Er muss ja nicht seine richtige Adresse angeben oder überhaupt einen Wohnsitz haben. Er kann irgendeine Adresse nennen. Zum Beispiel Ihre. Dann begeht er eine schwere Straftat, kann fliehen, wird aber identifiziert. Halbe Stunde später bricht das SEK Ihre Wohnungstür auf und bevor Sie auch nur Aber sagen können, liegen Sie zum Paket verschnürt auf dem Boden und zwar so lange, bis die SEK-Leute in Ihrer Wohnung Anhaltspunkte dafür gefunden haben, dass Sie nicht der sind, den sie suchen. – Krasses Beispiel. Im Alltag stellt sich das weit verbreitete Phänomen der Scheinanmeldungen weniger aufregend dar. Da geht es auch meist nicht um die Verfolgung von Schwerverbrechern, sondern darum, dass der Halter eines Fahrzeugs ermittelt werden muss oder dass einer seinen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens nicht bezahlt hat. Kinkerlitzchen. Aber dadurch, dass der Halter an der Adresse, an der er gemeldet ist, gar nicht wohnt und ihn auch niemand dort je gesehen hat, wird daraus für den Schutzmann eine Ermittlungsaktion mit allem Drum und Dran, inklusive der aus Kino und TV bekannten Mauer des Schweigens, auf die er trifft, wenn er sich zu der gesuchten Person durchzufragen versucht.

Verarscht
Der Schutzmann erzählt so lebendig von seinen Erlebnissen bei Wohnsitz-Ermittlungen, dass ich mir nicht nur gut vorstellen kann, was für ein Lebensgefühl das ist, mit so einem Kram seine Tage verbringen zu müssen, sondern mir obendrein an seiner Stelle verarscht vorkomme, während ich ihm zuhöre. Zugleich jedoch sind diese Geschichten sehr unterhaltsam und es gibt immer wieder was zu lachen. Zum Beispiel, wenn der Schutzmann die Übersprungshandlung mit dem Handy vorführt: Schutzmann fragt nach dem Aufenthalt des Bruders, Cousins, Freundes, Mitarbeiters, Kollegen. Befragter greift wortlos zu seinem Handy, schaut es nachdenklich an, lässt einen Finger über die Tastatur kreisen, als wolle er gleich eine Nummer aus dem Telefonverzeichnis heraussuchen. Doch dann hält er inne, weil ihm einfällt, dass er die neue Nummer des Bruders noch nicht hat, oder es fällt ihm ein anderer Grund ein, warum er dem Polizisten die Nummer nicht geben kann. - Alle machen sie das. Alle! Genau so. Immer auf die gleiche Art, sagt der Schutzmann. Und das nächste ist dann, dass sie mir eine andere Nummer geben wollen von jemandem, der etwas wissen könnte. Die wählen sie dann gleich selbst und dann reichen sie mir das Handy. - Früher ist er da noch ran gegangen. Inzwischen weiß er, dass er da nur etwas erzählt kriegt, das er auch schon hundertmal gehört hat, und deshalb sagt er nun: Hör zu! In Wirklichkeit sage ich natürlich Sie. Hör zu, sage ich, wenn du mir jetzt nicht sagst, wo ich deinen Bruder finde, dann hast du ein multiples Problem und das Problem heißt XXXXX YYYYYYY (=sein Vor- und Nachname). – Das klingt wie ein Zitat aus einem amerikanischen Polizeifilm. Aber manchmal wirkt es. Noch wirksamer: die Good-Cop-Nummer - wenn die Angelegenheit es zulässt. Dann erklärt der Schutzmann dem Befragten geduldig, warum er seinen Bruder sprechen will. Zum Beispiel, dass es nur um einen Mahnbescheid wegen eines Strafzettels über 35 Euro geht, der nicht zugestellt werden konnte, und schon hat er ein ganz anderes Gespräch: Was?! Nur 35 Euro! Warum hast du das nicht gleich gesagt?

Respekt
Dass er sich verarscht vorkommt von den Leuten, dass hat der Schutzmann nicht ein Mal gesagt in den zweieinhalb Stunden, in denen er mir von seiner Arbeit erzählt hat. Vielleicht ist das auch gar nicht so und nur mir kommt es so vor, wenn ich mich in seine Lage versetze. Er hingegen sieht die Lügerei, das Ausweichen und Hinhalten, das Dummstellen als Teil eines Spiels an, das gar nicht anders laufen kann. Er muss nur wissen, was er zu tun hat, damit er es gewinnt. - Und manchmal verliere ich eben, sagt er. Das muss ich akzeptieren. - Jedenfalls ist das nicht sein  Problem. Worunter er leidet, was aus dem Job, mit dem er sich identifiziert, einen Scheiß-Job macht, das ist die Feindseligkeit, der er als Polizist begegnet, die Verachtung, die Geringschätzung, die seiner Arbeit entgegengebracht wird. - Es gibt keinen Respekt vor der Uniform, sagt er. - Wenn ich irgendwo reinkomme, kann ich sicher sein, dass irgendein Clown aufspringt und die Arme hochreißt und ruft: Ich bin unschuldig! Ich bin es nicht gewesen! Und alle anderen lachen. – Oder ich gehe eine Straße lang, steht einer am Straßenrand neben seinem Auto, sieht mich und fragt: Habe ich richtig geparkt? - Was soll das? Das muss er doch  wissen, ob er richtig geparkt hat. – Eine seltsame Mischung von schlechtem Gewissen und Hohn ist das, die sich da zeigt. Schwer zu erklären.

Um die Stelle als Kontaktbereichsbeamter hat er sich auch deshalb beworben, weil er den Streifendienst nicht mehr ertragen hat. Weil er auch nach der zehnten Leiche noch nicht so abgestumpft war, dass er die Erinnerung daran nach Dienstschluss ausknipsen konnte. Weil er es nicht mehr sehen wollte, was übrig bleibt auf den Schienen von einem, der sich vor die U-Bahn geworfen hat. Weil er, wenn er über Funk hörte Motorradunfall, sofort gedacht hat: Oh Nein! Bloß nicht wir! Bloß nicht dahin! Nicht dahin kommen und dann sitzt der da und spuckt Blut und deshalb nimmst du ihm den Helm ab und in dem Helm steckt dann die Schädeldecke und sein Gehirn liegt frei, aber er lebt noch. - Hat er gesehen. Wollte er nicht noch mal erleben. Deshalb ist er KOB geworden. Mit geringerem Gehalt, weil keine Nacht- und Sonn- und Feiertags-Zuschläge. Aber dafür nicht mehr diese Bilder sehen müssen. Nicht immer erst dann dazu kommen, wenn etwas schrecklich schief gelaufen ist. Mit seinem Einsatz etwas tun können, um zu verhindern, dass es so weit kommt. Da sein zu können für die Leute und die Leute wissen das auch, dass er für sie da ist. 

So hat er das gesagt. Nicht wörtlich. So habe ich es verstanden. Und als wir uns verabschiedeten, habe ich ihn - unwillkürlich - am Oberarm angefasst, als ich mich für das Gespräch bedankt habe. Keine Ursache, hat er geantwortet. Neben seiner Tätigkeit als KOB fährt er immer noch ein- bis zweimal die Woche im Funkwagen Streife. - Wegen der Zuschläge? habe ich gefragt. - Nein, wegen Personalmangel.