Montag, 25. Juli 2011

Multitasking

Der graue Sommer. Mein zweiter Vorname ist Warten, sagt der Schutzmann. Während ich mit Özgür an einem der vorderen Tische sitze und mit ihm über die Arbeiten spreche, die ich von ihm zeigen werde, füllt sich nach und nach die Bar. Rote Beete. Wir sind hier, weil Özgür das wollte. Ich könnte denken: ist doch gut, den Laden kenne ich noch nicht, mal ein anderer Eindruck. Suzan und Andreas machen den Laden. Er ist gelernter Antiquar. Er hat noch einen Restbestand von seinem Online-Handel mit antiquarischen Büchern, u.a. eine unvollständige Ausgabe von Gibbon, Verfall und Niedergang des römischen Imperiums. Die Bücher sind untergebracht in einem Nebenraum. Dunkelrot gestrichene Decke mit Kronleuchter. Regale an der Wand. Lounge-Atmosphäre. Den Raum mir merken! Guter Platz für ein Treffen mit einem Interviewpartner, zum Vorgespräch, mit einer Art von Person, wie ich sie im Moment nicht im Blick habe, aber gerne hätte. Ganz schnell wieder weg aus dieser Sphäre. Leute, die ich kenne von früher. Alkohol-Bekanntschaften aus meiner Alkohol-Vergangenheit. Gesellschaft und Alkohol. Die Rote Beete hat geöffnet bis vier Uhr morgens. Anfangs, vor zwei Jahren, hatten sie geöffnet bis sechs Uhr. Aber davon sind sie schnell abgekommen, erzählt Andreas. Zwischen vier und sechs hat es ihnen zu viel geschneit. Ganz andere Szene, ganz andere Leute in diesen zwei Stunden. Die wollten sie nicht haben in ihrer Bar. Gesellschaft und Kokain. Drogengewohnheiten und soziales Verhalten. Eine Untersuchung, die es nicht geben wird, und nicht nur deshalb, weil sie zu aufschlussreich wäre: Kokain und Investmentbanking. Und wenn es crasht, finanzieren die dummen Steuerzahler die Kollateralschäden des Drogenmissbrauchs. Kokain und Neoliberalismus? Gesellschaftsveränderung durch Einführung anderer Drogen? Denn ohne Drogen scheint es nicht zu gehen. Alkohol macht locker, umgänglich und gesprächig. Deshalb sind wir in dieser Bar, die sich allmählich füllt in den fast drei Stunden, die wir zusammensitzen. Was für Musik, die hier spielen! sage ich zu Özgür. Der wundert sich, dass ich sie überhaupt höre, während wir reden, und er fragt mich, ob ich  multitaskingfähig sei? – Nein, ich bin kein Multitasker, die Musik dringt nur zwischendurch an mein Ohr. Die extrem verzögerte Fassung von Bang Bang aus Kill Bill. Original von Sonny and Cher. Da standen wir noch am Tresen zusammen mit Suzan und Andreas. Ich sage bestimmt drei Mal Sonny and Cher. Keine Reaktion. Sie könnten wenigstens sagen, kennen wir nicht - Özgür Jahrgang 72, Andreas Jahrgang 68 oder 69, Suzan wahrscheinlich irgendwo dazwischen. Aber kein Bedarf. Sonny and Cher interessiert die nicht. Mich auch nicht. Obwohl ich dann noch sagen muss: Das war so überraschend, diese verzögerte Minimal-Version des Songs zu hören in dem Tarantino-Film, wenn man das Original kannte aus den 60er Jahren. Später dringt an mein Ohr noch was von den Arctic Monkeys aus dem ersten Album (*). Ach, und auch schon lange nicht mehr gehört: Amy Winehouse. Am Freitag war das. Ausgeh-Abend. Die Frau vom Schuhladen, zu der ich einmal das belastete Verhältnis hatte, kommt herein, sieht sehr hübsch aus und bei ihr ist ein sehr junger Mann. Später kommt einer mit am Kopf angewachsener Basecap, der sonst im Café Romantica residiert, anders ist es nicht zu bezeichnen, denn wie festgeschraubt saß der da immer am Tresen. Jetzt gern gesehener Gast in der Roten Beete. Erfreutes Grüßen von Özgür und ihm. Ich werde nicht gegrüßt und wundere mich, dass Özgür den kennt. Ich sage was über seine erotischen Präferenzen. Klatsch. Verstehe gar nicht, dass ich den erzähle. Was ich nicht erzähle, wie der Typ mich mal verarscht hat mit einer Wichtigtuerei. Hat er deshalb jetzt die Grußhemmung mir gegenüber? Warum denn? War doch mein Fehler, dass ich darauf hereingefallen bin. Nachdem wir alles besprochen haben und ich die Abzüge der Fotos von Özgürs Skulpturen gerade weggesteckt habe, kommt eine Nachbarin (längsseitig, nicht gegenüber) herein mit einer sehr blonden Freundin. Özgür kennt die Freundin. Die Nachbarin und ich sind beide überrascht, hier aufeinander zu treffen. Ich sehe sie seit fast 15 Jahren. Vorletzten Winter, als in der Eisenacherstraße vor dem Blumengeschäft ein Mann beinahe von einem riesigen Eiszapfen erschlagen worden wäre, sind wir zum ersten Mal miteinander ins Gespräch gekommen. Seither sagen wir Hallo, wenn wir uns sehen, und nicht viel mehr. Jetzt erfahre ich, sie heißt Ulla. Und: Als die blonde Frau fragt, ob Özgür und ich eine geschäftliche Besprechung haben oder ob sie sich zu uns setzen können, antworte ich, wir haben über die Arbeiten von Özgür gesprochen, weil ich über sie schreiben will, und hole die Fotos hervor, um sie den beiden Frauen zu zeigen. Ulla deutet auf ein Foto und meint, dass ihr das gefällt. Die anderen nicht? Und dann sagt sie, dass sie auch Künstlerin ist. – Ach! – Malerin. Bilder von ihr stehen im Netz, auf der Website ihres Galeristen. Sind aber ältere Arbeiten. Sie kann mir einen Katalog mit neuen Arbeiten in den Briefkasten werfen. – Ja, mach das! Fließender Übergang: vom Künstler dieser Woche zur Künstlerin der nächsten Woche, denke ich, sage aber erst mal nichts. Muss jetzt auch los. 22 Uhr. Habe noch nichts gegessen, muss noch das Posting des Tages überarbeiten und veröffentlichen. Zahle zwei Mineralwasser. Drei Euro sechzig. Vier Euro mit Trinkgeld für die Bedienung, die mal die Mathe-Nachhilfelehrerin von Özgürs Tochter war. Wir treffen uns hier noch mal in den nächsten Tagen, Özgür. Dann trinke ich ein Bier. Pilsner Urquell vom Fass haben sie. Und im August machen sie Ferien. Aber dann! Unbedingt mal hingehen!
Rote Beete
Café & Raucherbar
Gleditschstraße 71
10781 Berlin
03023635011

(*) Whatever People Say I Am, That´s What I´m Not