Mittwoch, 20. Juli 2011

Abscheu

Seltsam altbackene Einrichtung auf Spiegel Online, wo sie sonst so viel richtig machen: Die Kolumnisten. Meinungsgeschreibe. Unter anderen von Jakob Augstein, der eigentlich Walser heißen müsste und der auch so aussieht, aber wegen der Großzügigkeit des Rudolf Augstein seinen großen Namen hat und zusammen mit seiner Schwester Franziska Augstein, die gar nicht seine Schwester ist (Franziska Walser ist seine Schwester), Anteilseigner des Spiegel Verlages ist und deswegen und nur aus diesem Grund wöchentlich eine Kolumne auf Spiegel Online schreibt. Schlimm. Trotz des Altbackenen manchmal gerne gelesen von mir die Kolumnen von Georg Diez und immer die von Sibylle Berg. Weil sie schreibt, wie sie auf dem Foto zu ihrer Kolumne aussieht. Immer gerne gelesen, auch dann noch, wenn sie nur geschrieben hat, weil sie liefern musste wie diese Woche über Berlin als Angeber-Hauptstadt. Kommentar zum massenhaften Vorkommen von jungen Menschen in Berlin unter dem Aspekt ihrer angestrengten und inhaltsleeren Hipness. Und richtig gutes Essen gibt es auch keins in Berlin, schreibt Frau Berg. Das weiß ich als ihr regelmäßiger Leser, dass sie gerne gut und teuer essen geht. Dass sie jetzt aber solche Einblicke in die Berliner Massen-Hipness genommen hat, das verwundert mich und ich denke mir, dass sie das, was sie in ihrer Kolumne diese Woche schreibt, nur vom Hörensagen weiß. Gehört von älteren Menschen, die mit ihren riesigen Wohnungen Frau Berg beeindruckt haben und die sich nicht einmal mehr daran erinnern können, wie sich Hunger anfühlt. Das dürfte sie bemerkt haben, als diese älteren Menschen, bei denen sie, aus Zürich angereist, zu Gast war, ihr den Gefallen getan haben, mit ihr essen zu gehen. Und ich verstehe nicht, warum Frau Berg aus dieser Wahrnehmung nicht mehr gemacht hat. Warum sie aus dem Zusammenhang der Hungerlosigkeit und der Dürftigkeit der angeberischen Berliner Edel-Gastronomie nicht einen erzählerischen Mikrokosmos geschaffen hat, aus dem sie stimmig  auf die Berliner Angeberischkeit hätte schließen können. Stimmig, weil sie von dem Restaurantbesuch mit den älteren Menschen eine Anschauung hat, vom Leben der jungen Menschen aber nicht. Die müsste sie sich erst verschaffen, indem sie sie aufsucht an ihren uninteressanten Plätzen und mit ihnen spricht über ihre uninteressanten Beschäftigungen und ihre uninteressanten Erwartungen, die sie haben an ihr uninteressantes Leben. Verständlich, dass sie das nicht wollte. Aber sollte sie sich dann nicht beschränken auf den Mikrokosmos ihres Erlebten, also auf sich? Was doch allemal interessanter ist als die Berlin durchwimmelnden Massen junger Menschen. Frau Berg ist interessant. Die jungen Menschen sind es mehrheitlich nicht.

Das sehe ich genauso wie sie. Habe es auf jeden Fall so gesehen vergangenen Samstag, als ich zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder am Abend raus gegangen bin, um einmal etwas anderes zu sehen als mein Laptop und dahinter die halbgeöffnete Balkontür, das Gitter des Balkongeländers und die Fassade des Hinterhauses mit der Wohnung, in die vor kurzem ein junger Mann eingezogen ist. Aber der war an diesem Abend nicht da. Die Fenster waren dunkel. Da gab es nichts zu sehen. Wenn er da ist, gibt es auch nicht viel zu sehen. Ob das so ein uniformer Berliner Hipster ist? – Ich schweife ab. Draußen war ich. 22.15 Uhr. Habe mir Zigaretten gekauft und bin danach ins Café Gottlob gegangen, weil Lüder da am Samstag arbeitete. Wollte erst nichts trinken. Habe gemerkt, dass das nicht geht. Mir ein Glas Rotwein geben lassen. Mich umgeschaut. Mir vorgekommen wie ein Schauspieler, der die 500. Vorstellung eines Stückes spielt und nur noch denken kann an den letzten Vorhang, der heute Abend fallen wird, und dann nichts wie weg, weg, weg! Aber wohin? – Lüder gefragt, was musikalisch bei ihm passiert gerade. Er plant ein eigenes Label, hat er erzählt. – Wieso denn das? Das lenkt dich doch nur ab vom Musikmachen. Einwände formuliert, zugleich gewusst, der hat eine Ideenkrise, deshalb trägt er sich mit so einem klischeehaften Plan. Hast du zur Zeit eine Freundin? – Er deutet auf eine der beiden Bedienungen. – Hier kennengelernt oder mit hierher gebracht? – Ersteres. – Damit schon alles besprochen. Glas Rotwein noch zu zwei Dritteln gefüllt. Raus gegangen. Zigarette rauchen. Beim Rauchen die Leute angeguckt, die draußen saßen an den Tischen vor dem Gottlob, alle Stühle besetzt von jungen Menschen, denen es gut zu gehen schien und die alle gleich uninteressant aussahen und wahrscheinlich auch alle das Gleiche geredet haben: Facebook und als nächstes Google +. Praktikum. Apple. Dieser Laden, jener Laden. Und natürlich Geld, Geld, Geld. Kein Wort gehört. Nur undeutlich gesehen im Halbdunkel der schwachen Beleuchtung, weil meine Augen nach dem langen Starren auf den Bildschirm Stunden brauchen, bis sie sich erholt und wieder an dreidimensionale Bilder gewöhnt haben. Trotzdem gedacht, da ist keine einzige Person unter diesen jungen Leuten, die ich würde kennenlernen wollen. Und das ist jetzt die mich umgebende Menschheit. Eine andere gibt es nicht. Wieder reingegangen zu meinem Glas Wein und zu Lüder. Hassgefühl. Mich dabei gegraust vor mir. Kein Menschenhasser sein wollen. Aber wenn es nicht anders geht? – Paar Mitte 30. Frau halbhübsch. Typ, der nette Mann, der zurecht kommt im Leben und deshalb diese halbhübsche Frau hat, die es vermeiden wird, ihm zu oft zu widersprechen, weil sie froh sein kann, dass sie als Halbhübsche so einen abgekriegt hat. Die muntere Begrüßung mit Lüder. Das kurze muntere Gespräch. Obwohl alle Tische besetzt sind, werdet ihr bestimmt gleich einen Platz kriegen, sagt Lüder. Das sind nämlich alles Touristen, die sitzen nicht stundenlang rum wie die Schöneberger. – Weil sie so viele Berliner Clubs wie möglich kennenlernen wollen, hat die halbhübsche Frau darauf gesagt und in ihrer frischen, unkomplizierten Art gelacht, dass der Hass in mir hoch gestiegen ist wie Magensäure. Und schon kam die Freundin von Lüder und hat den beiden gesagt, dass ein Tisch frei geworden ist. - Bis ich den Wein ausgetrunken hatte, mühsames Gespräch mit Lüder. Weiter über sein Label. Alles gut gedacht von ihm, aber wenn es musikalisch bei ihm laufen würde … . – Lüder zu viel Trinkgeld gegeben. Auf dem Nachhauseweg: Gelangweiltsein. Abscheu. Hass. Und das Entsetzen darüber. Am nächsten Tag, am übernächsten Tag darüber zu reden versucht. Niemand will so etwas wissen. Alleine damit zurecht gekommen. Aber der Schreck! Wenn das wieder kommt! Und wenn es das nächste Mal nicht wieder weggeht? Weil es gar nicht anders sein kann. Weil es nicht an mir liegt. Nicht an meiner Abscheu, sondern am Abscheulichen: wie gleich die alle sind und es nicht merken in der Überanstrengung ihres Sich-Spreizens. Weil das jetzt so ist, dass alle Individualität haben, und alle dieselbe (*). Vorausgesagt (Karl Kraus, Aldous Huxley). Und jetzt ist es passiert. Das ist jetzt die mich umgebende Menschheit. Eine andere gibt es nicht. Was kann ich da anderes machen, um es zu ertragen, als mich zu ihnen zu setzen, Fragen zu stellen, in der Gleichheit Unterschiede bemerken, mich einlassen auf die Uninteressantheit und vielleicht erkennen, was für ein Glück im Uninteressantsein liegt. Doch das schon viel zu weit gedacht. Erst mal nur hingehen, zuhören, Fragen stellen. Und das am liebsten zusammen mit Frau Berg, wenn sie wieder einmal in Berlin ist. Damit es nicht so langweilig wird.

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(*) Karl Kraus, Nestroy und die Nachwelt (1912) : Wo alle Individualität haben, und alle dieselbe, und die Hysterie der Klebstoff ist, der die Gesellschaftsordnung zusammenhält.