Dienstag, 4. Januar 2011

Kurz

Zur Erinnerung: Der Name Tess ist eine Kurzform von Contessa. So habe ich die junge Frau genannt, die ich regelmäßig im Hallenbad gesehen habe, beginnend im Winter vor zwei Jahren bis das Hallenbad sieben Monate später im Juli schloss. Das ist nachzulesen in dem Brief, den ich ihr geschrieben habe im darauf folgenden November. Darin habe ich auch beschrieben, wie sie angezogen war beim Schwimmen, dunkelrotes Tanktop, kurze schwarze Hose, und dass sie, als das Tanktop auszubleichen begann, diese Kombination gegen einen Badeanzug tauschte, der genau so contessenhaft war wie die Tanktop-Hosen-Kombination. An dem Tag, an dem sie den Badeanzug zum ersten Mal trug, hat sie entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit sich ihre langen Haare nicht am Beckenrand sitzend zusammengebunden, sondern erst im Wasser. Mit den Beinen strampelnd auf der Stelle schwimmend in meiner Blickrichtung. Um mir ihren neuen Badeanzug zu zeigen, habe ich gedacht und war hin und weg davon, dass das so sein könnte. – Als ich heute im Penny Markt zum Pfandflaschen-Automaten ging, sah ich einen Gang weiter eine junge Frau um die Ecke biegen, das heißt: von mir aus gesehen erst in meine Richtung gehen und sich dann abwenden. Die Frau sah aus wie die Contessa mit kurzen Haaren. – Ich lasse den Mittelteil weg und komme zur Kasse. Vor mir eine Frau mit ziemlich vollem Einkaufswagen. Bei einem Vergleich mit meinen wenigen Einkäufen könnte sie mich ruhig vorlassen. Macht sie aber nicht und ich sage nichts, weil ich keinen schlechten Eindruck machen will. Denn die Frau vor der Frau mit dem vollen Einkaufswagen ist die Frau, die die Contessa sein könnte. Mit kurzen Haaren? - Sie blickt nach vorne. Ich trete erst nach rechts und dann mehrere Schritte nach links von meinem Einkaufswagen weg, um sie von der Seite anschauen zu können. Sie trägt einen schwarzen Mantel, den ich schon mal an ihr gesehen habe. Verwaschene Bluejeans, gefütterte braune Stiefel mit Kreppsohlen, die ich noch nie an ihr gesehen habe. Sie hat ein volles rundliches Gesicht mit einer Nase, bei der ich mir wieder mal nicht sicher bin, ob es eine Stupsnase ist. Auf ihre Augenfarbe habe ich heute nicht geachtet. Ihre Augenbrauen sind gezupft und geschwungen. Ihre Lippen sind nicht voll, nicht dünn. Fein sind sie. Sie hat einen ungewöhnlichen, fein geschnittenen Mund. Einen großen Mund, wie ich einmal bemerkt habe, als ich sie zum ersten Mal lächeln sah. Ihr Kinn ist ausgeprägt und leicht vorspringend. - Es gibt die Vorstellung von Madonnen-Gesicht. Sie hat ein Contessa-Gesicht. Das Gesicht war es, mehr noch als ihre Art (das Tessige), das mich dazu gebracht hat, sie Contessa zu nennen. Ich habe dieses Gesicht so oft gesehen beim Schwimmen. Ich kenne seine Wandlungen. Seine Schönheit und die Härte, die es auch haben kann. Heute ist es verschlossen. Ernst. Abweisend. Mehr starren. als ich es schon tue. kann ich nicht. Doch sie blickt nicht zurück. Sie bezahlt ihre Einkäufe. Geht mit ihnen zu der Ablage neben dem Eingang, packt sie in ihre Umhängetasche aus einem roten Segeltuchmaterial. Ohne Eile. Und trotzdem ist sie schon fertig damit, als ich endlich drankomme. Als ich meinen Einkaufswagen von der Kasse weg schiebe, sehe ich sie draußen vor dem Schaufenster vorbeigehen. Richtung Martin-Luther-Straße. Ich beeile mich. Doch als ich nach draußen trete, ist sie nicht mehr zu sehen. Ich gehe zu Aldi rein. Ich gehe vor zur Kreuzung, schaue nach rechts, nach links die Martin-Luther-Straße, geradeaus die Grunewaldstraße hoch. Nirgendwo eine Gestalt mit schwarzem Mantel und roter Umhängetasche. Wie vom Erdboden verschluckt. Alter Indianertrick; gehört zu ihrem Repertoire. So wie jetzt an dieser Kreuzung habe ich schon einige Male dagestanden: So kurz vor dem Ziel gewesen und mich verfluchend, dass ich wieder nicht schnell genug, nicht geistesgegenwärtig war. Dabei hatte ich mir schon überlegt, was ich zu ihr sage, wenn ich sie ansprechen würde. Stotternd, vielleicht mit zitternden Lippen. Ist doch egal. Hauptsache vor ihr stehen und mit ihr reden. – Um nichts versäumt zu haben, bin ich dann noch mal zu Aldi reingegangen, um nach ihr zu schauen. Dabei ist mir eingefallen, dass ich bei Penny vergessen hatte, Milch zu kaufen. An der Kasse, ich mit meinem Liter Milch. 56 Cent oder 55? Als die Kassiererin mir das Wechselgeld zurückgibt, schaue ich sie an mit einem solchen weggetretenen und zugleich bohrenden, wahrscheinlich furchterregenden Blick, dass ich mich wortreich entschuldige, als ich aus meiner Abwesenheit auftauche und die Münzen entgegennehme. – War das jetzt wieder eine verpasste Gelegenheit? War das jetzt mal wieder einer der für uns typischen Fälle von es vermasselt haben? Oder wollte die Tess mir nur zeigen, dass sie sich die Haare hat kurz schneiden lassen? - Wenn die Frau, die letzten Freitag telefonierend am Fenster des Wohnzimmers in der Dachwohnung gegenüber stand, auch die Tess war, dann hat sie sich die Haare erst in den letzten Tagen abschneiden lassen. Denn die Frau am Fenster hatte lange Haare. – Weiß sie, dass Männer wie ich denken, dass wenn eine Frau sich die Haare kurz schneiden lässt, dass sie dann was vorhat, dass sie dann ihr Leben verändern will?

Gestern vergessen den Post zu verlinken, in dem das Wort tessig erstmals vorkam.