Donnerstag, 6. Januar 2011

Kinnlang

Och, Mensch! – Reichelt. Wahrscheinlich 15.35. Drei Kassen geöffnet. Zweimal hin und her, bis ich mich für eine entscheide. Der mir entfernt bekannte Mann im schwarzen Ledermantel zwängt sich an mir vorbei. Ist das Vordrängen? – Er murmelt, dass er nur was gucken will. - Desorientiert? – Ja, heute sehr. – Sonnenbrille abnehmen?. – Nein, die Sonnenbrille braucht er wegen der Magnetstrahlen – oder wie heißen die? – Er ist inzwischen zur Kasse nebenan gegangen und bespricht dort mit jemandem, was für Strahlen das sein könnten. Hat irgendwas mit den Polen zu tun. – Ich überlege, was für Strahlen er meinen könnte; komme nicht drauf. Drehe mich weg und sehe an der Kasse nebenan, an der Kasse, an der er mit der Sonnenbrille ansteht: die Tess. Im Gespräch mit der Kassiererin, mehr ein Wortwechsel als ein Gespräch, Wortwechsel, in dem es anscheinend geht um den Preis des Bunds Frühlingszwiebeln den sie in der Hand hält. - Schwarzer Mantel, rote Umhängetasche. Die kurzen Haare. Das vorgestern beschriebene Gesicht. Die Frau, die ich am Dienstag gesehen habe bei Penny. Ist das wirklich die Tess? - Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Ist das die Tess? – Schöne Menschen haben viele Gesichter. – Heute sieht sie so brav aus. Auch schön. Liegt wahrscheinlich daran, dass die Haare anders liegen als vor zwei Tagen. Die feuchte Witterung. Kein Drei-Wetter-Taft. – Ich hätte jetzt gerne ausfahrbare Ohren. Lausche angestrengt auf ihre Stimme. Amerikanischer Akzent? Spricht sie mit amerikanischem Akzent? – Das ist nicht korrekt, sagt sie zur Kassiererin. Akzentfrei? Mit Akzent? Ich höre es nicht heraus. – Ich starre sie an. Und heute erwidert sie meinen Blick! Einen langen Moment lang. Nicht befremdet oder irritiert oder fragend: Was glotzt´n der so? – Ich kann den Blick nicht beschreiben. Es ist auch nicht so, dass er mir durch und durch geht. – Ich versuche es noch mal: Sie blickt mich ganz ruhig an. Nicht herausfordernd. Nicht abweisend. Der Situation angemessen. Sie weiß, wer ich bin. Ich weiß, wer sie ist. Sie lächelt nicht. Ich lächele auch nicht. Dazu bin ich viel zu angestrengt und konzentriert darauf, was gerade passiert. Sie wendet ihren Blick ab. Hat sich inzwischen geeinigt mit der Kassiererin oder auch nicht. Geht weg von der Kasse, zur Ablage an der Wand. Sie packt ihren Einkauf in ihre Umhängetasche und verlässt ohne Eile und ohne sich nach mir umzudrehen den Supermarkt. Ich bemerke, dass ich immer noch den Einkaufskorb in der Hand halte, bitte die hinter mir stehende Frau, ihn nach hinten durchzureichen, und rechne damit, gleich dran zu kommen. Doch dann beginnt das Verhängnis, für das die Tess nichts kann, mit dem sie nichts zu tun hat, das nicht vorherzusehen war oder doch - wenn man weiß, dass ich mich manchmal wie auf Schienen bewege. Denn warum entziehe ich mich nicht dem Verhängnis? Warum lasse ich die Schale mit den italienischen Birnen und die irische Butter nicht an der Kasse liegen und laufe der Tess hinterher? Statt nun zunehmend verzweifelt darauf zu warten, dass die Kassiererin und der junge Mensch vor mir aufhören sich miteinander zu verspielen, weil sie sich anscheinend so sympathisch sind. Jetzt erst schiebt die Kassiererin seine Karte in das Kartenlesegerät. Ich fasse es nicht! Das sage ich laut und fluche dann ebenso laut wie ein pathologischer Drängler vor mich hin. Statt meinen Einkauf liegen zu lassen und der Tess hinterher zu laufen. Doch so lange kann ich jetzt auch noch warten, bis die Bestätigung vom Geldinstitut kommt, denke ich und jetzt bin ich auch schon dran. Geht ganz schnell. Die Kassiererin ist flink, freundlich, unbeeindruckt von dem Stress, den ich eben noch gemacht habe. Der junge Mensch allerdings mustert mich mit sehr kritischen Seitenblicken. Raus aus dem Supermarkt. Rolltreppe. Passage. Hauptstraße. Keine Tess. Fußgängerübergang. Nicht so hastig! Es ist stellenweise tückisch glatt. Die Tess hat den gleichen Nachhauseweg wie ich. Da müsste ich sie doch einholen, wenn sie auch die Akazienstraße lang geht. Keine Frau mit schwarzem Mantel und roter Umhängetasche vor mir oder auf der anderen Seite der Straße. Wieder hat es nicht geklappt. Warum hat sie nicht gewartet? – War sie es überhaupt? – Ja! Sie war es. Weil sie nicht gewartet hat. Weil sie verschwunden ist. Wenn die Frau im schwarzen Mantel und mit der roten Umhängetasche nur eine Doppelgängerin gewesen wäre, dann hätte ich die nämlich noch gesehen beim Verlassen der Kaiser-Wilhelm-Passage. Die wäre nicht wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Die hätte auch nicht an der Kasse meinen Blick auf diese Art erwidert, wie die Tess es getan hat. – Und schon wieder habe ich nicht auf ihre Augenfarbe geachtet. Dunkle Augen? Braune Augen? Wie ich?  - Ach, und ihre Haare sind übrigens kinnlang. Das hatte ich erst in dem Post (Kurz) stehen, dann ist es beim Überarbeiten rausgefallen und danach habe ich es nicht mehr unterbringen können. Kinnlang. – Ich lenke ab. Weil ich nicht weiß, wie ich aufhören soll, weil ich nicht weiß, was ich denken soll. Warum hat sie nicht gewartet? – Oder hat sie vielleicht gewartet? Ist langsam genug gegangen, damit ich sie einholen kann. Hat sich dann aber nicht vorstellen können, dass ich so lange aufgehalten werde und dass ich nichts dagegen unternehme. Hat vielleicht gedacht, ich habe mich verdrückt, traue mich nicht. Denkt inzwischen vielleicht, so blöd kann der gar nicht sein, dass er mich jedes Mal verpasst. Der will mich gar nicht kennenlernen. Der will nur über mich schreiben. – NEIN! Der ist im Moment völlig außer sich. Der sieht gerade Dein Dachlukenlicht gegenüber und hofft, dass das Licht bedeutet, dass Du nicht enttäuscht und böse bist auf ihn, weil er wieder nicht schnell genug war ... . Hier breche ich ab. Der Text ist geschrieben als ein Protokoll für die Tess, damit sie weiß, wie ich die Szene erlebt habe. Ich habe mehrere Schlussvarianten vom Schreiben des Entwurfs am späten Nachmittag. Sie treffen es alle nicht. Denn mehr weiß ich nicht, als jetzt da steht. Nur das noch: Am Dienstag war es gut, gleich nach der Begegnung mit ihr darüber zu schreiben. Heute wäre es besser gewesen, etwas zu unternehmen, dass es doch noch klappt, oder einfach nur im Dunkeln zu sitzen und an diesen Blick von ihr zu denken, der mir nicht aus dem Kopf geht.