Freitag, 21. Januar 2011

Narkose

Als bei Peter vor zwei Jahren ein Zungenbodenkarzinom diagnostiziert wurde, ging das so: Der HNO-Facharzt macht eine Biopsie an dem pickelartigen Gewächs unter der Zunge, das nach vier Monaten Beobachtung durch Peter in seinem Badezimmerspiegel immer noch nicht verschwunden ist. Der HNO-Arzt zwickt mit einer Zange in das pickelartige Gewächs, so dass hinterher das Blut nur so fließt. Die Gewebeprobe wird labortechnisch untersucht. Nichts. Alles gut. Aber dann doch nicht. Der Pickel wurde größer. Überweisung in die Klinik. Ärztin, die schon einiges gesehen hat in ihrem Berufsleben, schaut ihn sich an und sagt: Ich fress ´n Besen, wenn dass kein Karzinom ist. Wiederholung der Biopsie. Jetzt unter Klinikbedingungen. Vollnarkose. Tiefer Schnitt. Und am nächsten Tag kommt die Ärztin zu Peter ins Zimmer, hebt den Daumen und sagt strahlend: Hab ich´s nicht gesagt? Karzinom! – Diese Anekdote hat Peter mir inzwischen so oft erzählt, dass ich sie hier endlich mal wiedergeben muss. Auch deshalb, um verständlich zu machen, weshalb Peter es so gelassen hinnimmt, dass er nach dem Termin bei Professor B. gestern immer noch nicht weiß, woran er ist mit seinen zwei Knubbeln am Hals. Könnte bösartig sein. Deshalb: Biopsie, erneute Blutabnahme wegen Keratinin-Wert (wieso denn das?) und Wiederholung der MRT, weil Professor B. mit dem Bild nicht zufrieden war. Am 1. Februar nächster Termin bei B. und dann hoffentlich mehr. – Die Dauerkrise mit der anstrengenden jungen Freundin. Die Trauerarbeit nach dem Auszug des Sohnes. Die Angst davor, dass der Amtsarzt ihn beim Termin in vier Wochen berufsunfähig schreiben könnte. Jetzt das schleppende Diagnose-Verfahren wegen der Knubbel. Und dann noch die Skype-Freundinnen und ich, die wir ihm ständig damit in den Ohren liegen, dass er wegen seines schwerwiegenden Darm-Problems, das er nämlich auch noch hat, endlich was unternehmen muss. – Hast du mit deinem Hausarzt darüber geredet? – Ja. – Was sagt er? – Darmspiegelung. – Wann? – Mach ich nicht. – Warum nicht? – Weil mir das zu gefährlich ist mit der Propofol-Narkose bei der Darmspiegelung. Da ist Michael Jackson dran gestorben. - Aber doch nicht bei einer Darmspiegelung. - Ich lasse mich nur narkotisieren, wenn drei Anästhesisten um mich herum stehen. – Dann lasse es eben in der Klinik machen. – Das kommt aus nicht genannten, aber mir verständlichen Gründen für ihn nicht in Frage. Also locke ich ihn mit der Telefonnummer einer Praxis in der Nähe des Bayrischen Platzes, wo sie alle hingehen und bei der ich seit einem Dreivierteljahr eine Vorsorgeuntersuchung plane. Beeindruckt ihn nicht. Auch dort wird mit Propofol narkotisiert. Von Ärzten, die nicht als Anästhesisten ausgebildet sind. Nicht mit ihm. – Peter, ich habe das Gefühl, du verspielst dich. – Schweigen. – Spiele ich also auch, indem ich ihn daran erinnere, dass er mehrfach behauptet hat, nicht am Leben zu hängen. Noch während ich es sage, merke ich, dass das nicht zieht. Bleibe aber auf der Linie: Sterben musst du sowieso irgendwann. Wenn du während einer Narkose stirbst, ist das die angenehmste Art, es hinter dich zu bringen. Einschlafen und nicht mehr aufwachen. Keine Schmerzen, keine Todesangst, kein Leiden, kein Drama. – Lockt ihn nicht. Und wahrscheinlich ist das Darm-Problem ohnehin nur ein psychosomatisches. – Das weißt du aber erst nach der Darmspiegelung, entgegne ich. Dann fasele ich noch etwas von einem Tritt in den Arsch, den er bräuchte. Er erwidert, dass das nach seiner sozialpädagogischen Erfahrung überhaupt nichts bringt. Strafe nützt nichts. – Ich erwidere, dass ich den Tritt in den Arsch nicht als Strafe meine, sondern als Motivation. Das Gespräch zerfranst. Ich bin erschöpft. Er ist erschöpft. Hinterher denke ich: Warum kann ich ihn nicht in Ruhe lassen und mich damit begnügen, Fragen zu stellen und mit ihm zu lachen? Er hat es doch auch so schon schwer genug.